Volk der Verbannten
mit betonter Lässigkeit hin. »Zehn Prozent im Voraus, um den Handel abzuschließen. Wir wollen morgen die Stadt verlassen. Nennt uns einen Treffpunkt; wir werden da sein. Den Rest der Summe bekommt Ihr jenseits der Mauern. Ich muss in weniger als fünf Tagen in Kiranya sein und Salazar von dort aus einen Brief schicken. Wenn es länger dauert, wird er wissen, dass uns etwas zugestoßen ist.«
Mas Dravec lächelte und hob die Hand, als wolle er durch die Wand des Ladens auf den Hügel, das Regierungsviertel und das Ratsgebäude weisen.
»Wenn einer der wichtigsten Männer da oben Euch so sehr schätzt, warum müsst Ihr dann so rasch aus Reynes fliehen - und unter so schlechten Bedingungen?«
Arekh trat mit einem boshaften Lächeln an Mas Dravec heran, bis ihre Gesichter nahe beieinander waren. »Die Seelenleser«, sagte er und betonte jede Silbe; zu seiner Befriedigung wurde der Mann blass und musste ein Zurückzucken unterdrücken. »Die Seelenleser sind uns auf den Fersen, Mas Dravec. Wisst Ihr, was das für uns
bedeutet - und für Euch? Wenn wir beispielsweise verraten würden und ihnen wieder in die Hände fielen … Glaubt Ihr, dass sie Euch dann für erwiesene Dienste danken würden?«
Mas Dravec starrte ihn an, ohne zu antworten, und Arekh fuhr fort, indem er Laosimbas zischenden Tonfall nachahmte: » ›Die, die das Böse berührt hat, sind auf ewig befleckt …‹ Diejenigen, die mit dem Bösen Mitleid haben, werden vom Atem des Gottes, dessen Namen man nicht nennt, verderbt; deshalb müssen sie bestraft, gereinigt und geopfert werden, bevor ihr Einfluss sich ausbreiten kann. Ihr habt mich gesehen, Ihr habt sie gesehen.« Er deutete auf Lionor, während der Mann vor ihm zwischen dem Bedürfnis, nicht das Gesicht zu verlieren, und religiöser Furcht hin- und hergerissen war. »Ich habe Euch berührt … Für die Seelenleser wäre das schon zu viel. Wenn Ihr uns verratet, werdet Ihr wie wir unter der Klinge und im Feuer unter dem Ratsgebäude sterben, damit Ihr von dem scheußlichen Verbrechen gereinigt werdet, uns nahe gewesen zu sein. Es ist genauso in Eurem Interesse wie in unserem, dass wir ihnen nicht wieder in die Hände fallen.«
Arekh trat zurück. Es befriedigte ihn zu sehen, wie Lionor den Blick senkte, um ein amüsiertes Aufblitzen zu verbergen. Dann wurde der zerbrechliche Körper des Kindes plötzlich von einem neuen Hustenanfall geschüttelt, und sie zog sich ein wenig zurück, um es zu wiegen.
Mas Dravec streckte die Hand aus. Arekh gab ihm die zweihundert Res.
»Morgen, vor den Säulen des westlichen Murufer-Tempels. Tausend Res dann. Die restlichen achthundert, wenn ihr draußen seid.«
»Sehr gut. Bis morgen«, sagte Arekh mit einem knappen Nicken, nahm Lionor beim Ellbogen und zog sie ins Licht.
An jenem Abend ging Arekh auf die Jagd.
Lionor wartete in dem Gasthauszimmer auf ihn, in dem er sie zurückgelassen hatte. Sie hatte gegessen, eine gute, warme Mahlzeit mit einem Krug Wein. Die Wirtin hatte auch Trockenfrüchte und Birnen auf das Tablett gelegt. »Das ist gut für die Milch, junge Dame! Ihr seid so mager! Euer Mann muss Euch mehr zu essen geben - eine Frau, die stillt, muss schließlich satt sein!«
Das Kind war nach dem letzten Stillen eingeschlafen, aber es gelang Lionor nicht, selbst ebenfalls einzuschlummern. Die Energie und Freude, die sie durchströmt hatten, als sie die Stadt durchquert hatte, waren verschwunden.
Mas Dravecs Laden hatte beides verschluckt - wie eine eisige Mahnung, sich auf die Wirklichkeit zu besinnen.
Sie beugte sich aus dem Fenster, betrachtete die Stadt unter den Sternen, die eiligen Passanten, die über das Pflaster des kleinen Platzes hasteten. Tausendachthundert Res, die sie vor dem nächsten Morgen auftreiben mussten. Arekh hatte ihr nicht gesagt, wie er vorgehen würde. Wollte er in ein reiches Viertel schleichen und Passanten ausrauben, bis er die gewünschte Summe zusammenhatte? Oder in ein adliges Anwesen eindringen, um etwas - was nur? - zu rauben?
Und was, wenn er nicht zurückkehrte? Lionor war findig, aber sie hatte weder Geld noch Waffen und kannte die Stadt nicht. Wenn die Seelenleser sie fanden, sie und das Kind …
Sie betrachtete ihren schlafenden Sohn, seine mageren Händchen, sein fahles Gesicht.
Bist du das alles wert, Marikani? Bist du mein Leid wert? Oder seines?
Der Gedanke fuhr ihr wie ein Blitz durch den Kopf, und Lionor war selbst überrascht, welchen Hass sie kurz empfand. Plötzlichen, heftigen Hass.
Und
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