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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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auf einmal war ihr kalt, und sie begann zu zittern und zu schluchzen, während sie noch immer am Fensterbrett stand.
    Am Nachthimmel war E-Lâ oberhalb des Sternzeichens Miâ angekommen, das mit seinen sieben Sternen noch vor einigen Monaten die Rune der Fruchtbarkeit gebildet hatte. Aber Aês, der südlichste Stern der Rune, war am Tag des Großen Opfers wie so viele andere vom blauen Leuchten der Explosion des türkisfarbenen Sterns ausgelöscht worden, als Ayesha die Hand zum Firmament gehoben hatte.
    Durch den Verlust des einen Sterns hatte die Rune eine andere Form bekommen. Am Vorabend ihrer Verhaftung durch die Männer aus Reynes hatte einer von Lionors Reisegefährten, ein junger Student, der hoffte, dereinst als Priester Verella dienen zu können, ihr erklärt, dass die Sterne nun die Rune Siâ bildeten.
    Siâ bedeutete »der Abgrund«.
    Arekh kehrte drei Stunden vor der Morgendämmerung zurück, und Lionor drehte sich zu ihm um. Sie war durchgefroren, da sie weder die Kraft noch das Bedürfnis gehabt hatte, sich zu bewegen oder auch nur das Fenster zu schließen. Er warf mit ausdruckslosem Gesicht einen dicken Geldbeutel auf den Tisch.
    Ein metallisches Klirren ertönte.

    Lionor sah wortlos zu, wie er seine schwere, metallbestickte Lederjacke auszog - eine Jacke, die er noch nicht getragen hatte, als er gegangen war - und sich, wie von Mattigkeit übermannt, aufs Bett fallen ließ.
    »Lasst uns die Nacht zusammen verbringen.«
    Sie hatte gesprochen. Sie war es gewesen, die gesprochen hatte, das bemerkte sie erst einige Augenblicke später, während ihre Worte noch im Raum standen und Arekh ihr langsam den Kopf zuwandte.
    »Was?« Er zögerte. »Natürlich teilen wir uns … das Zimmer. Es ist besser, wenn wir uns nicht trennen.«
    Lionor trat zitternd und frierend an ihn heran. Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt, wie ihr plötzlich bewusst wurde - sie hatte weder ihre Gefühle noch ihre Worte noch ihre Tränen unter Kontrolle.
    »Mir ist so kalt. Ich will nicht allein schlafen. Ich will nicht … ich brauche … ich brauche Trost«, sagte sie und kam noch näher, obwohl sie sich bewusst war, wie hohl und dumm ihre Worte klangen, als wären sie schon zu oft von zu vielen Mündern ausgesprochen worden.
    Aber sie konnte nicht denken oder argumentieren. Sie hatte nur dieses Bedürfnis, drängend, verzehrend, von einem lebendigen, warmen Körper umschlungen und geliebt zu werden, um den Abgrund da draußen in Schach zu halten. Sie setzte sich aufs Bett und legte Arekh den Kopf auf die Schulter, aber er schob sie sanft beiseite.
    »Euch ist nur aus Müdigkeit so kalt. Ihr solltet schlafen.«
    Sie beharrte, strich ihm mit der Hand über die Brust, wollte sprechen, beinahe betteln. Aber sie war zu erschöpft, die richtigen Worte zu finden. Arekh stand auf,
umfasste ihre Handgelenke und sah sie mit einer gewissen Zärtlichkeit an. »Ich kann nicht. Es tut mir sehr leid.«
    Lionor musterte ihn verständnislos und fragte dann heiser: »Ihretwegen? Ist es das? Ihretwegen?«
    Arekh ließ ihre Handgelenke los und schlug eine Bettdecke zurück. »Ich glaube schon. Ihr solltet schlafen«, wiederholte er, brachte sie dazu, sich auszustrecken, und deckte sie zu. Aber Lionor schlief nicht vor Sonnenaufgang ein; sie blieb mit offenen Augen liegen und starrte durchs Fenster das bläuliche Licht an, das das Firmament erhellte.

KAPITEL 10
    In den Kavernen befanden sich ungefähr zweihundert Menschen.
    Mas Dravec und seine Männer hatten die Verabredung eingehalten. Das Geld hatte den Besitzer gewechselt, und Lionors Befürchtungen zum Trotz hatten weder Dravec noch seine Leute versucht, sie zu ermorden, um ihnen den Rest der Summe abzunehmen. Mas Dravec hatte eher besorgt gewirkt: Sein Gesicht war angespannt gewesen. Es hatte, wie er den beiden Flüchtlingen erklärt hatte, Änderungen gegeben. Änderungen bei der Bewachung der Stadtmauern. Drei Schlepper waren getötet worden. Sie würden erst etwas verspätet aus der Stadt gelangen können.
    Lionor und Arekh waren ins »Vorzimmer« geführt worden.
    In die Kavernen.
    Dort warteten mehr als zweihundert Männer, Frauen und Kinder: Mas Dravecs Kunden, die ebenfalls darauf hofften, die Stadt zu verlassen.
    Zuerst hatten Lionor und Arekh an einen Betrug geglaubt, aber die anderen hatten sie eines Besseren belehrt. Manche Familien waren in der Tat dank dieses
Netzwerks aus Reynes hinausgelangt: Verwandte und Freunde hatten Briefe erhalten, die darauf hindeuteten, dass sie gut

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