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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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an Seite. Verwundete schrien auf, wenn sie das Gleichgewicht verloren und in den Abgrund stürzten.
    Manaîn war einer der ersten, der starb.

KAPITEL 11
    Der Sakâs-Krieger trat auf Non’iama zu und warf ihr ein Stück gebratenes Fleisch hin.
    »Morgen«, sagte er.
    Das Fleischstück war in die Glut gefallen und begann zu verkohlen. Das kleine Mädchen, das am Feuer saß, machte keine Bewegung, um es zu ergreifen. Stattdessen warf sie nur einen gleichgültigen Blick darauf, als hätte sie keinen Hunger, als zöge sich ihr Magen nicht schon beim bloßen Anblick des Essens zusammen. Dann hob sie den Blick zu dem Krieger - er hieß Nôs -, der, die Arme in die Hüften gestemmt, wartete.
    Sie starrte ihn mit ihren blauen Augen an, bis Nôs unbehaglich den Blick senkte.
    »Was, ›morgen‹?«
    »Morgen siehst du den König.«
    Non’iama zuckte nicht mit der Wimper. »Wenn ich will.«
    Nôs musterte sie einen Moment lang, als wolle er etwas erwidern, entfernte sich dann aber ohne ein weiteres Wort.
    Non’iama blieb unbeugsam, reglos und hoch aufgerichtet sitzen; sie widerstand der Versuchung, sich auf das
Fleisch zu stürzen. Sie musste sich stark zeigen. Das war ihre einzige Chance. Die Sakâs respektierten sie, weil sie sich weder Angst noch Schwäche anmerken ließ. Sie war eine »Hâman«, wie Nordos zu ihr gesagt hatte, als er sie ins Lager geführt hatte. Eine Hâman der Ayesha.
    Das Wort bezeichnete eine Mischung aus Priesterin und Zauberin. Die Sakâs glaubten, dass Non’iama Ayesha diente und von ihr wundersame Kräfte erhielt. Sie hatten sie weder gefesselt noch in Ketten gelegt, und sie durfte sich im Lager frei bewegen. Aber alle starrten sie an. Sie ließen sie nicht aus den Augen, die Krieger des Lagers ebenso wenig wie die kaum halbwüchsigen Jugendlichen, die zwischen den Zelten umherrannten, um Suppe zu verteilen, oder die hart dreinblickenden Frauen, die den Truppen folgten. Sie bereiteten die Mahlzeiten zu; manche befriedigten auch andere Gelüste der Soldaten. Diese Frauen waren ebenfalls Hâman - Hâman der Ka-Rel-Vela. Um der Göttin zu huldigen, streckten sie sich nackt am Feuer aus, nachdem sie eine große Schale mit frischem Wasser aufgestellt hatten. Die Soldaten, die es wünschten, konnten sie dann einfach besteigen. Seit ihrer Ankunft hatte Non’iama fasziniert das Schauspiel dieser groben, gewalttätigen, animalischen Sexualität beobachtet, die nicht weit von ihr entfernt ausgelebt wurde. Manchmal schlugen die Soldaten die Hâman, und diese schrien und flehten, aber anscheinend war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass eine bestimmte Grenze nicht überschritten werden durfte, denn die Frauen kamen immer mit einigen blauen Flecken davon. Wenn sie müde wurden und keine Lust mehr hatten zu feiern, hoben sie die Hand, und der Soldat ging. Im Anschluss wuschen sie sich langsam mit dem Wasser aus der Schale.

    Danach näherte sich ihnen kein Sakâs mehr, und sie richteten erst während der nächsten Feier wieder das Wort an einen Mann.
    Als Non’iama eine Hâman gebeten hatte, ihr von Ka-Rel-Vela zu erzählen, hatte die Frau die Hand zu den Sternen gehoben, um auf E-Lâ, den zweiten Mond, zu deuten. Danach hatte sie irgendetwas von »Tochter« und »Geburt« gesagt.
    »Die Tochter der Lâ? Aber Lâ hat nur eine Tochter - Verella!«, hatte Non’iama erstaunt eingewandt.
    Die Hâman hatte genickt. »Ja. Verella. Ich bin Hâman Ka-Rel-Vela. Du bist Hâman Ayesha«, hatte sie gesagt und Non’iama den Finger auf die Brust gelegt. »Blut. Der Gott, dessen Namen man nicht nennt. Der Abgrund.«
    Das Wort »Abgrund« klang seltsam aus dem Mund dieser Frau, deren Wortschatz sehr beschränkt wirkte. Aber sie wiederholte dasselbe Wort, als Non’iama sie darum bat. Non’iama war selbst nicht ganz sicher, ob sie verstand, was der Begriff in diesem Zusammenhang bedeutete. Sie hatte sich eine bruchstückhafte Bildung angeeignet, indem sie ihren Herren gelauscht hatte, wenn sie im Empfangszimmer gearbeitet oder bei Tisch serviert oder sich im Schulzimmer um das kleinste Kind gekümmert hatte, während der Priester den ältesten Sohn der Familie in Dichtkunst und Geschichte unterwies.
    Die Hâman hatte gelacht, als sie Non’iamas fragendes Gesicht gesehen hatte. Sie hatte beide Hände gehoben, die Finger gespreizt und sie dann aneinander herangeführt, so dass sie sich verschränkt hatten, verknüpft wie die Fäden eines Teppichs. »Alles hängt zusammen«, hatte sie lächelnd gesagt, und Non’iama hatte

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