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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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des Großen Opfers bei ihr. Ich habe sie den Arm heben sehen; ich habe den Stern explodieren sehen.«
    Der König musterte Non’iama einen Moment lang und setzte sich dann, ohne das Kind aus den Augen zu lassen. Auf seinem Gesicht zeichneten sich keine Zweifel ab, sondern eher … Neugier, wie Non’iama begriff. Verzehrende Neugier, gieriger Wissensdurst.
    »Du hast gesehen, wie sie den Arm gehoben hat, und dann ist der türkisfarbene Stern explodiert? In dem Moment? Genau in dem Moment?«
    »Ja.«
    »Wie heißt du?«

    »Non’iama.«
    »Bist du dir dessen sicher, Non’iama?« Der König stand auf und ging im Zelt auf und ab. »Ayesha ist allein zum Altar von Nôm gegangen und hat sich den Priestern entgegengestellt. Ich habe genug Zeugenaussagen gehört, um das bestätigt zu finden. Aber vielleicht ist der Stern schon vorher explodiert, oder ein paar Stunden später, oder nur in derselben Nacht …«
    »Nein«, widersprach Non’iama. »Ich war da. Ich habe gesehen, was passiert ist.« Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz. Jeder kennt diese Geschichte …«
    »In der Tat. Aber nur, weil eine Geschichte sich in den Königreichen herumspricht, muss sie noch nicht wahr sein, Mädchen. Ich schaffe selbst Legenden. Ich weiß, wie man das bewerkstelligt.« Er seufzte. »Die Sterne haben ein Eigenleben, weißt du das? Die Astrologen von Reynes haben das schon immer gewusst. Die Sterne leben und sterben wie wir. Dieser Stern hatte vielleicht das Ende seines Lebens erreicht - vielleicht war es an der Zeit für ihn zu sterben. Wenn dann in derselben Woche eine junge Frau einen Sklavenaufstand anzettelt, reicht das für den menschlichen Verstand aus, eine Verbindung herzustellen. Deshalb wollte ich wissen, ob beides wirklich genau im selben Augenblick geschehen ist. Augenzeugen sind kostbar. Und selten. Es sei denn …« Die Augen des Königs schienen durch Non’iamas Hautschichten zu blicken, um hinter die Bemalung und die Maske zu spähen. »Es sei denn, sie lügen.«
    Das kleine Mädchen senkte den Blick nicht.
    »Sehr gut«, sagte der König, der sie noch immer musterte. »Wir werden sehen, ob du aufrichtig bist. Erzähl mir deine Geschichte. Von deiner Geburt bis zu deiner
Begegnung mit Ayesha und der Nacht des Großen Opfers. Bis zu deiner Ankunft hier. Ich will alles wissen.«
    Non’iama erzählte. Der König wandte den Blick nicht von ihr ab, unterbrach sie bei allem, was widersprüchlich wirkte, um ihr knapp zu befehlen, sich zu erklären. Er hielt sich bei absurden oder alltäglichen Einzelheiten auf, stellte Fragen, die Non’iama spontan beantwortete - oder auf die sie im Gegenteil keine Antwort wusste.
    Als sie schwieg, nickte der König. »Ich glaube dir«, sagte er. »Und das wirft leider mehr Fragen auf, als es beantwortet. Wenn Ayesha den Stern hat sterben lassen, dann ist sie jemand, mit dem man rechnen muss. Es sei denn, die Götter hätten sie nur dieses eine Mal benutzt, so dass sie jetzt keine Bedeutung mehr für den Großen Plan hat. Es sei denn, es gibt keine Götter, und irgendetwas anderes geht hier vor.«
    »Alles ist miteinander verbunden«, wiederholte Non’iama das, was die Hâman gesagt hatte.
    Der König zuckte mit den Schultern. »Solche Sätze sind zugleich zutiefst wahr und völlig nutzlos. Du hast vielleicht vergessen, womit ich dir eben gedroht habe. Beim nächsten Mal schlage ich dir eine Hand ab - und du wirst beide brauchen, um nützlich zu sein.«
    »In welcher Hinsicht kann ich Euch nützlich sein?«, fragte Non’iama in leichter Abwandlung des Satzes, den ihre Großmutter immer gesagt hatte, wenn einer ihrer Herren die Küche betrat.
    »Ayesha wird dich wiedererkennen. Vertraut sie dir?«
    »Ja. Und ich werde sie nicht verraten«, sagte Non’iama und richtete sich stolz auf.
    Der König erhob sich und trat auf sie zu. Er ist schön , begriff Non’iama. Er war ein schöner junger Mann mit
geschmeidigem Körper und funkelndem Blick. Bei den Bällen, die sie manchmal miterlebt hatte - sei es, wenn sie Essen aufgetragen hatte, sei es, wenn sie kauernd durch den Spalt einer Dienertür gespäht hatte -, wären die jungen Mädchen in ihren eng anliegenden Kleidern erschauert, wenn er vorübergekommen wäre.
    Der König führte eine Hand hinter den Rücken und zog einen langen Dolch aus dem Gürtel; mit der Spitze stach er dem kleinen Mädchen erst in die Mitte der Stirn, dann auf beide Wangenknochen, bis drei Blutstropfen auf der türkisfarben bemalten Haut erschienen.

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