Voll daneben
die Sportnachrichten vorzulesen. Ich warte nicht, bis er fertig ist. Stattdessen nehme ich mir das Mikro ab und stehe vom Tisch auf.
Ich bin noch vor allen anderen an meinem Schließfach, und merke kaum, dass Darleen neben mir auftaucht.
»Deine Schulnachrichten waren heute ganz außergewöhnlich«,sagt sie. »Ich fand deinen Einwand wegen der Schulmenüs überzeugend. Es ist ganz schön faschistisch, wie sie immer darauf bestehen, überall Fleisch rein zu tun, stimmt’s?«
Ich habe zwar keine Ahnung, inwiefern das faschistisch sein soll, aber im Augenblick ist mir das völlig egal.
Jen holt mich vor der Englischstunde ein.
»Geht es dir wieder besser?«, erkundigt sie sich.
Ich zucke die Achseln.
»Jedenfalls danke für die Ankündigung der Modenschau. Ich habe schon eine ganze Reihe Leute zusammen, die mitmachen wollen. Wir denken daran, sie auf den Spätnachmittag zu legen – nach der Vorführung der Cheerleader und vor dem Tortenwerfen. So haben wir eine leere Bühne, und die Cheerleader können an beidem teilnehmen. Nikki stellt die Musiktitel zusammen, aber sie will wissen, was für Kleidungsstücke du mitbringst.«
Mist.
Ich habe vollkommen vergessen, Kleidungsstücke für die Modenschau zu organisieren.
»Ich glaube nicht, dass ich da sein werde«, sage ich, und Jen sieht mich mit offenem Mund an. Jetzt ist sie nicht mehr besorgt, sondern wütend.
»Auf gar keinen Fall! Wir haben schon alles organisiert. Ich habe eine Dreiviertelstunde für euch eingeplant, und die Abschlussklasse rechnet mit den Spenden.«
»Ich bin sicher, Eddie wird mitmachen. Ich glaube nur nicht ...«
Jen ist schockiert.
»Niemand kommt, um Eddie zu sehen. Alle kommen nur wegen dir.«
Es klingelt und ich gehe ins Klassenzimmer, doch Jen lässt sich nicht abschütteln.
»Wir zählen auf dich«, sagt sie scharf. »Ich werde Nikki sagen, sie soll Eddie wegen der Kleidungsstücke anrufen, aber wehe, du kommst nicht!«
Orlando steht neben meinem Schreibtisch.
»Jen. Auf deinen Platz«, sagt er. Jen wirft mir noch einen erbosten Blick zu, bevor sie nach hinten geht, aber ich sehe sie nicht an. Orlando wartet kurz; dann räuspert er sich.
»Gut. Schlagt bitte alle Hamlet auf.« Er wendet sich mir zu.
»Liam, wo ist dein Buch?«
»Soll ich ins Sekretariat gehen?«, frage ich, da ich mein Buch nicht dabeihabe.
Orlando zögert. Dann holt er ein zweites Buch aus seiner Schreibtischschublade.
»Setz dich aufrecht hin. Heute kannst du das hier nehmen.« Er wirft das Buch durchs Zimmer, und ich fange es auf.
»Sie sagten, ich muss ins Sekretariat, wenn ich wieder mein Buch vergesse.«
Orlando ist gerade dabei, etwas an die Tafel zu schreiben, doch jetzt hält er mit gezückter Kreide inne. »Das habe ich gesagt«, bestätigt er, »aber das war, bevor ich gemerkt habe, dass du jeden Tag dein Buch vergisst. Ich gebe dir noch eine Chance.«
Die Klasse kichert, und ich starre auf die Ausgabe von Hamlet auf meinem Tisch.
»Wenn Sie mir immer ein neues Buch geben, werde ich mich nie daran erinnern, meins mitzubringen.«
Diesmal legt Orlando die Kreide hin.
» Willst du denn ins Sekretariat gehen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich meine nur, dass Sie etwas gesagt haben, es aber nicht durchziehen.«
Eine peinliche Stille entsteht, während alle Augen sich von mir abwenden und sich stattdessen auf Orlando richten.
»Willst du ins Sekretariat gehen?«, wiederholt er. »Bitte sehr, die Tür ist offen.« Er tritt einen Schritt zurück. »Ich will dich nicht aufhalten.« Er dreht sich zur Tafel und schreibt: »Vater, Mutter, Onkel, Sohn«. Dann wendet er sich wieder der Klasse zu.
»Also gut. Lasst uns über Familiendynamik sprechen. Was geht in Hamlets Familie vor sich? Inwiefern verändert Hamlets Vater, eine Figur, die nur als Geist auftritt, die Handlung der Geschichte? Inwieweit ändert sich Hamlets Beziehung zu seiner Mutter zwischen dem ersten und dem fünften Akt? Was ist mit der wahnsinnigen Ophelia? Übt sie einen Einfluss auf die Handlung aus? Ist Hamlet Opfer oder Täter? Na, wer weiß etwas darüber?«
Ich stehe auf.
»Liam?«
»Ich gehe jetzt ins Sekretariat.«
Eine ganze Weile herrscht Schweigen, während die ganze Klasse mich anstarrt. Schließlich nickt Orlando.
»Gut«, sagt er, und so verlasse ich den Raum, ohne mich noch einmal umzudrehen.
46
AN DIESEM ABEND WARTE ICH, bis Pete zur Arbeit gefahren ist und ich allein bin. Dann setze ich mich ans Telefon. Ich nehme den Hörer ab, wähle eine Nummer
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