Voll erwischt

müssen und eine Menge Energie verbraucht, um an die Oberfläche durchzubrechen, und nachdem das jetzt geschafft war, wollte es nicht so schnell wieder aufgeben. Für das Lächeln hätte Geordie ihn am liebsten umarmt, kannte ihn andererseits aber auch wieder nicht gut genug. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, daß man den Typen nicht umarmt, bei dem man seine Tageszeitung kauft. Er verstand das zwar nicht, aber er würde später mit Sam darüber reden, oder mit Gus, oder mit Celia. Einer von ihnen würde es schon wissen. Die drei zusammen wußten praktisch alles. Wie neulich abends, als sie zusammengesessen und über Unsichtbarkeit geredet hatten. Ja, über die gottverdammte Unsichtbarkeit. Geordie konnte es nicht glauben. Zuerst hielt er es noch für einen Scherz, aber sie meinten es völlig ernst. Celia hatte das Stichwort gegeben, als sie sagte, wenn Frauen erst mal die Vierzig erreicht hätten, würden sie allmählich unsichtbar. Ach, ja wirklich, Celia? Weiter so. Als wär sie schließlich völlig durchgeknallt. Spätestens am nächsten Morgen würde sie auch bellen.
    «Aber so ungefähr mit, na, irgendwann nach dem Sechzigsten beziehungsweise zwischen sechzig und siebzig kehren sie so langsam wieder zurück», sagte sie.
    «Sind Sie da auch ganz sicher, Celia?» erkundigte sich Gus.
    «Absolut», sagte sie. «Das steht völlig außer Zweifel. An meinem siebenunddreißigsten Geburtstag wurde ich unsichtbar, und bis zu meinem zweiundsechzigsten war ich überhaupt nicht mehr zu sehen.»
    «Abgefahren sind Sie ja», meinte Sam. Und er warf ihr einen Blick zu, weil er wissen wollte, ob sie verstand, was er damit meinte. Geordie war das auch vorher schon aufgefallen, diese Blicke, die Sam und Celia gelegentlich wechselten. Der Blick bedeutete immer: Verstehst du mich? Und egal, wer von beiden diese Frage stellte, der andere schien stets mit Ja zu antworten. Das war schon komisch, denn wenn Gus oder Geordie oder sonstwer auf der Welt den Ausdruck abgefahren benutzt hätte, würde Celia nicht verstanden haben, was es bedeutete. Aber wenn Sam dasselbe sagte, wußte sie es sofort.
    Aber das war wieder ein anderes Thema. Damals hatte Sam sie gefragt, was mit den Männern passierte, und Celia erklärte, daß Männer ein bißchen länger durchhielten als Frauen. Sie wurden erst unsichtbar, wenn sie ein Alter von Mitte bis Ende Fünfzig erreichten, dafür verschwanden sie dann aber auch endgültig von der Bildfläche. Männer kamen nicht mehr zurück. «Das ist übrigens auch der Grund», verkündete sie, «warum man zwar Unmengen alter Damen sieht, wenn man durch die Stadt geht, aber überhaupt keine alten Männer.»
    «Wo sind die denn?» wollte Geordie wissen. «Was ist mit ihnen passiert?»
    «Oh, sie sind noch da», sagte Celia. «Man sieht sie nur einfach nicht mehr.»
    Meine Fresse. Unsichtbar.
    «Er kommt jetzt raus», sagte die Stimme in Geordies Ohrhörer. «Übergebe wieder an dich.» Norman Brown verließ das W. H. Smith’s, schlenderte ein Stück den Bürgersteig hinunter und betrat dann Woolworths. Geordie tippte Tombo auf den Arm, sagte: «Wir seh’n uns», trabte über die Straße und folgte Norman durch die Pendeltür des Kaufhauses. Geordie wünschte, er wäre jetzt auch unsichtbar. Wär praktisch bei so einem Job. Man könnte die Sache im Alleingang durchziehen, wie in diesem Film neulich in der Glotze: Der Unsichtbare. Dann würde der alte Geordie seine Mullverbände abwickeln, Hemd und Filzhut beiseite legen und splitternackt Norman Brown beschatten.
    Vielleicht ein bißchen frisch im Winter, aber bei so einem Wetter wie jetzt nackt durch Woolworths zu laufen, tja, Mann, warum nicht? Würde ihn doch sowieso kein Mensch sehen. Er hatte früher schon mal darüber nachgedacht, wie man einfach nur so zum Spaß die Leute beobachten könnte, ohne daß sie ihn bemerkten. Mädchen auf die Damentoilette zu folgen. An allen möglichen Orten sein zu können, an denen er normalerweise nicht sein sollte. In ein Restaurant zu latschen, wenn er Hunger hatte, und sich einfach einen Hähnchenschenkel zu nehmen. Also, lieber ein Bruststück. Den ganzen Flattermann, wenn ihm danach war. Der Kellner kam mit einem dieser großen Silbertabletts auf der Schulter vorbei. Geordie hob den Deckel hoch und zischte dann mit dem Hähnchen weg, wobei er Bratensaft über den ganzen Boden kleckerte. Da Geordie aber nun mal absolut unsichtbar war, sah’s für die anderen aus, als hätte das Hähnchen die Schnauze voll und würde