Voll erwischt
aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten. Als ich sie fragte, was sich denn geändert habe, warum sie nicht mehr gewalttätig sei, wissen Sie, was sie mir da geantwortet hat?»
«Nein, verraten Sie’s mir», sagte Sam.
«Sie hat jetzt einen Hund», sagte Jennie. «Sie macht sich Sorgen, was aus dem Hund wird, falls sie wieder ins Gefängnis müßte. Sie macht sich so große Sorgen deswegen, daß sie sich aus allen Schwierigkeiten heraushält.»
Sam lächelte und schüttelte den Kopf. Er nahm den Blick kurz von der Straße und sah Jennie an. «Meinen Sie, wir sollten alle einen haben?» fragte er. «Einen Hund?»
«Ich denke, wir haben alle einen», sagte Jennie. «Wir alle haben etwas Vergleichbares, etwas, das uns aus Schwierigkeiten heraushält. Die meisten Knackis, die ich persönlich kennengelernt habe, haben dieses Etwas verloren oder nie besessen. Wenn wir ihnen helfen könnten, es zu finden, vielleicht werden sie dann nicht mehr rückfällig.»
«Sie sind eine Idealistin», sagte Sam.
Sie sah ihn an und fragte sich, ob er es herabsetzend gemeint hatte. Nein, einfach nur eine Beobachtung. Er mißbilligte es nicht. «Sie nicht?» fragte sie.
Er nickte. «Aber ein zynischer», sagte er. «Gesellschaftswissenschaftliche Theorien sind interessant, aber seit Lazarus sein Nickerchen beendet hat, gab’s schon eine ganze Menge davon. Und keine einzige hat jemals einen Psychopathen aufhalten können, der unter Verfolgungswahn leidet.»
Jennie lächelte. Ein echter Zyniker. «Wo bleibt der Idealismus bei einer solchen Feststellung?»
«Eines Tages werden wir die Antwort finden», sagte er und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. «Vielleicht morgen. Nur weil wir uns bislang nicht sonderlich clever angestellt haben, sollten wir nicht zwangsläufig aufgeben.»
«Das Gefängnis selbst ist ein großes Problem», sagte Jennie. «Besonders-in unserem Land. Bei uns sind über fünfzigtausend Menschen eingesperrt. Bei uns sitzen mehr Menschen in Gefängnissen als in jedem anderen größeren europäischen Land, die Türkei eingeschlossen. Und unsere Regierung baut immer neue Gefängnisse. In ein paar Jahren werden wir bereits über siebzigtausend Menschen einsperren.»
«Meinen Sie, wir sollten sie alle rauslassen?»
«Es wäre in vielerlei Hinsicht besser. Zumindest die meisten. Jeder fünfte sitzt in Untersuchungshaft, ein Viertel sind Teenager, und wenigstens zwei Drittel aller Häftlinge ist nicht gewalttätig. Mit der großen Mehrheit der Gefängnisinsassen könnte man sich durch eine Erweiterung der Unterbringung in Wohnheimen und eine Ausdehnung der Bewährungshilfe ökonomischer und humaner befassen.»
«Sie vertreten Ihre Einstellung sehr leidenschaftlich.»
«Tut mir leid», erwiderte sie. «Das ist mein Lieblingsthema. Aber es ist so eine schreckliche Verschwendung. Die zahlenmäßig weitaus stärkste Untergruppe der Gefängnisinsassen stellen die Fünfzehnjährigen! Kids in diesem Alter müssen nicht asozial sein. Mit einer geeigneten Politik könnten wir sie wieder auf den richtigen Weg bringen. Wenn wir sie einsperren, machen wir aus ihnen nur Berufsverbrecher.» Sie rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her, fühlte sich plötzlich unwohl. Diesem Mann, den sie gerade mal eine halbe Stunde kannte, so die Ohren vollzureden. Was wußte sie denn, es war durchaus möglich, daß er ein rechts orientierter Befürworter von Alle-aufhängen-und-auspeitschen-und-einsperren-und-schmeißt-den-Schlüssel-weg-Parolen war. «Tut mir leid», sagte sie. «Ich werde jetzt meinen Mund halten.»
Er schwieg. Jennie biß sich auf die Unterlippe und wartete. Sie würde nichts mehr sagen, glaubte, sowieso schon viel zuviel gesagt zu haben. Jetzt war er dran.
Sie kurbelte ihre Seitenscheibe ein Stückchen weiter herunter, spürte die Brise auf dem Gesicht, atmete tief ein und fragte sich, ob sie tatsächlich das Meer riechen konnte oder ob es nur Einbildung war. Sie verließen die Hauptstraße und folgten einem Hinweisschild nach Filey. Sam lachte. Sie sah ihn neugierig an, und er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. «Ich mußte nur gerade an diese Frau mit ihrem Hund denken», sagte er.
«Fanden Sie das witzig?» fragte sie.
«Nein», sagte er. «In meinem Beruf begegnen Sie Typen, die ein Hund bestimmt aus Schwierigkeiten heraushalten würde. Wenn Sie ihnen das nächste Mal begegnen, haben sie Wuffi aufgefressen.»
Jennie lachte nicht. Als der Wagen am Rand der Steilküste hielt und sich unter ihnen das Meer
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