Voll erwischt
Thermosflasche Kaffee gehabt hätte.
«Wo fahren wir denn hin?» fragte sie, als er ihr die Tür des Volvo aufhielt.
«Kennen Sie Filey Brigg?» fragte er.
Jennie stieg auf den Beifahrersitz. Sie wartete, bis er den Wagen umrundet und sich hinter das Lenkrad gesetzt hatte. «Die Ostküste kenne ich überhaupt nicht», sagte sie.
Sam sah sie kurz an, bevor er den Volvo rückwärts aus der Parklücke setzte. Einen flüchtigen Moment sahen sie sich in die Augen, und irgend etwas in ihr beruhigte sich. Bei ihrer Arbeit begegnete Jennie allen möglichen Männern, auf beiden Seiten der Gitter. Manche von ihnen waren unfähig, sich in einer Situation zu verhalten, wenn man mit ihnen allein war. Aber zu der Sorte gehörte dieser Mann nicht. Er war bestimmt nicht problemlos und offen, weit davon entfernt. Aber er würde zuhören und zumindest versuchen, sie zu verstehen. Genaugenommen, dachte sie, war es unmöglich vorherzusagen, ob der Tag positiv oder negativ verlaufen würde. Aber interessant würde es ganz sicher.
«Das Brigg wird Ihnen gefallen», sagte er. «Es ist wild.»
Und wieso kommt er auf die Idee, daß mir etwas Wildes gefällt? fragte sie sich. Sie bezweifelte nicht, daß er recht hatte, und etwas in ihr entdeckt hatte, von dem sie nicht wußte, daß sie es ausstrahlte. Aber es interessierte sie einfach, wie so was sein konnte. Jennie war ausgesprochen vorsichtig mit den Signalen, die sie in die Welt hinausschickte. Sie studierte und verstand die Körpersprache, wurde aber oft genug daran erinnert, daß sie die Körpersprache anderer Menschen erheblich besser verstand als ihre eigene. Besonders in Gegenwart von Männern. Man konnte einem Mann etwas sagen, kategorisch, klipp und klar, und mußte schon sehr bald feststellen, daß er das genaue Gegenteil verstanden hatte. Man konnte zum Beispiel sagen: Hör zu, ich will’s mal ganz höflich ausdrücken, was du sagst, finde ich hochinteressant, aber körperlich interessierst du mich überhaupt nicht. Und ehe man sich versah, antwortete der Mann dann: He, wir kommen doch blendend miteinander klar, gehen wir ins Bett?
Arrogant.
Sie hoffte, er würde es nicht sein. Aber das zu beurteilen, war es noch zu früh.
«Haben Sie Lust, mir von Ihrer Arbeit zu erzählen?» fragte er. «Was genau tun Sie eigentlich?»
«Vor allem interessiert mich die Pädagogik», antwortete sie.
«Was denn? Sie wollen Knackis erziehen?»
«Es gibt verschiedene Ansätze», erklärte sie. «Früher hat man allgemein geglaubt, daß ein Krimineller das Böse verkörpert. Man mußte ihn einfach nur bestrafen. Man mußte ihm das Böse austreiben.» Der Mann hörte zu. Er fuhr und hörte zu, unterbrach sie nicht. «Eine Weile galt es als schick, ihn nicht als durch und durch schlecht zu sehen, sondern vielmehr als krank. Er brauchte eine Behandlung, eine Therapie, man mußte ihn gesund machen, damit er sich wieder in der Gesellschaft einfügen konnte. Heute hält es die Wissenschaft durchaus für möglich, Kriminelle zu erziehen. Ich erforsche die verschiedenen Möglichkeiten, versuche herauszufinden, ob Kriminelle auf pädagogische Ansätze ansprechen.»
«Und? Tun sie’s?» fragte Sam.
«Ja. Wenn man den richtigen Weg findet, es ihnen schmackhaft zu machen.»
«Und der wäre?»
Jennie schüttelte den Kopf. «Genau das versuche ich ja gerade herauszufinden», sagte sie. «Wir haben es mit ziemlich komplexen Randbedingungen zu tun. Zunächst einmal geht es um die Ursachen, warum jemand kriminell wird, und anschließend darum, was ihn veranlaßt, damit aufzuhören.»
«Wahrscheinlich gibt’s genauso viele Gründe wie Kriminelle», meinte Sam.
«Ja», stimmte sie zu. «Da ist zum Beispiel eine Frau in Askham Grange», sagte sie. «Also, sie sitzt heute nicht mehr, sie ist jetzt schon eine ganze Weile wieder draußen. Sie ist mit zwanzig eingefahren und hat wegen Mordes etwa vierzehn Jahre abgesessen. Sie wurde auf Bewährung entlassen, und sechs Monate später war sie wegen schwerer Körperverletzung wieder drin. Saß weitere sieben Jahre, wurde für zehn Monate entlassen und handelte sich erneut sechs Jahre ein, weil sie damit drohte, jemanden umzubringen. Alles in allem hat sie über dreißig Jahre gesessen. Bei jeder Entlassung in die Freiheit hat sie immer nur ein paar Monate durchgehalten.»
«Mein Gott», sagte Sam.
«Ich habe mit ihr gesprochen», fuhr Jennie fort. «Sie ist heute sechzig Jahre alt und seit fast fünf Jahren nicht mehr im Gefängnis. Sie schafft es, sich
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