Voll Speed: Roman (German Edition)
bedeutet das: Hier hat jemand gelebt, der sich selbst nicht besonders gemocht hat. Ein einsamer, desillusionierter Mann, schließe ich nach meiner ersten flüchtigen Begehung. Kein Wunder, dass Phil und er sich gut verstanden haben.
Einzig die drei aluminiumgerahmten Fotos im Flur scheinen mit Sorgfalt ausgewählt und behandelt worden zu sein, hängen wie an einer Schnur gespannt und in identischem Abstand zueinander. Während Phil durch die Wohnung stromert und nach etwas sucht, von dem er noch nicht weiß, was es sein könnte, schwinge ich mich in Freeclimber-Manier die Kommode hinauf und sehe mir die Fotos an. Auf der Kommode sieht es übrigens genauso aus wie im Rest der Wohnung: Zeitungen, eine Lesebrille mit ungeputzten Gläsern, von denen eins gesprungen ist, eine verstaubte Keramikschale, in der zwei Äpfel liegen, die nicht einmal mehr ein Hängebauchschwein anrühren würde. Gleiches gilt für den Wasserrest in der zerbeulten Plastikflasche. Aber ich wollte mir ja die Fotos ansehen.
Auf dem einen ist ein junger Mann mit übel verbeultem Gesicht zu sehen, der glücklich eine Trophäe hochhält. Boris vermutlich. Ist mir schleierhaft, wie jemand, der so auf die Fresse gekriegt hat, so glücklich aussehen kann. Selbst das Lachen scheint ihm Schmerzen zu bereiten. Auf dem zweiten Bild ist derselbe Typ, also Boris, im Boxring zu sehen, wie er sich über einen am Boden liegenden Gegner beugt, der gerade ausgezählt wird. Im Bildvordergrund, außerhalb des Rings, ist ein Stück Rücken des Trainers zu sehen, der bereits die Arme emporreißt. Beim dritten Bild stand der Fotograf innerhalb des Boxrings. Wieder Boris, der Gegner diesmal ein anderer. Der Moment der Urteilsverkündung: Der Ringrichter in der Mitte reißt Boris’ Arm in die Höhe und der sieht aus, als wäre er am Ziel all seiner Träume angelangt. War er vermutlich auch. Sonst würde hier ein anderes Bild hängen. Oder gar keins.
Ich klettere von der Kommode herab und gehe auf die Suche nach meinem Partner, was nicht lange dauert. In Boris’ Wohnung gibt es eine Küchenzeile mit zwei braun geränderten Herdplatten, auf denen mächtig viel Kaffee und verdammt wenig anderes gekocht wurde. Außerdem ein Bad, in dem sich keine zwei Schildkröten paaren könnten, ein Schlafzimmer, in dem exakt ein Bett und ein Schrank Platz haben, sowie ein Wohn- und gleichzeitig Arbeitszimmer.
Phil ist gerade damit beschäftigt, Boris’ Schreibtisch auszuweiden. Um den knarzenden Bürostuhl herum sieht es aus, als hätte es Papier geschneit.
»War dein Ex-Partner Boxer?«, frage ich.
Phil antwortet, ohne seinen Blick vom Schreibtisch zu nehmen: »Zweimal Landesmeister im Halbschwergewicht … Ist lange her …« Sein Arm senkt sich herab, ich steige auf seine geöffnete Hand und werde auf dem Schreibtisch abgesetzt. Auch hier jede Menge Papier. Es riecht nach Druckerschwärze und altem Holz. Zwischen den Unterlagen blitzen grüne Flecken auf. Tischlinoleum. Prima, um Rillen reinzuziehen. Schweigend arbeitet sich Phil, der ein neues Paar Latexhandschuhe anhat, durch die Unterlagen, während ich munter Muster in den Belag ritze.
»Ein Ermittler«, sagt er, in einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel vertieft, »sollte immer versuchen, möglichst keine Hinweise zu hinterlassen, die zu ihm zurückführen könnten.«
»Du meinst, wenn die Jungs von der Spurensicherung diese Rillen entdecken, werden sie daraus schließen, dass hier ein Erdmännchen herumgeschnüffelt hat?«
»Du würdest dich wundern.«
»Mir zittern die Knie, Partner. Muss ich dann in den Knast?«
»Wenn ich gegen dich aussage – auf jeden Fall.«
»Das sind ja schöne Aussichten.« Ich mache eine Geste, die den Schreibtisch einfangen soll. »Was dabei?«
»Das weiß man oft erst hinterher. Und manchmal nie.«
Mir kommt in den Kopf, was Rufus heute Morgen zu mir gesagt hat: Wenn du eine weise Antwort willst, musst du vernünftig fragen. Ich nehme einen zweiten Anlauf: »Ist etwas dabei, von dem du glaubst , dass es sich als hilfreich erweisen könnte?«
Phil schiebt mir ein aus der Zeitung geschnittenes Foto rüber: eine schwarze Luxuslimousine mit getönten Scheiben. Schnieke, wie Rufus sagen würde. Daneben, auf der Fahrbahn, liegt ein menschlicher Körper, von dem allerdings nur die Schuhe zu sehen sind. Der Rest wird von einer Plane verdeckt, unter der eine Blutlache hervorquillt. Neben der halbgeöffneten Fahrertür steht ein Mann mit Sonnenbrille, der sich am Türrahmen festhält. Er
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