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Voll Speed: Roman (German Edition)

Voll Speed: Roman (German Edition)

Titel: Voll Speed: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
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zur nächsten Gabelung, dort den Abzweig nach Osten nehmen, und dann müssten wir ihn eigentlich langsam sehen können. Phil und Himmelsrichtungen.
    »Wie der wohl hier runtergekommen ist?«, überlege ich, während ich den Hinterkopf des Toten betrachte, der in regelmäßigen Abständen für kurze Momente als schwarz behaarte Qualle zur Oberfläche aufsteigt.
    »Durch einen Gully vermutlich«, sagt Rufus.
    So weit war ich natürlich auch schon. »Ja, du Schlaumeier. Die Frage ist, warum?«
    »Wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.« Er sieht mich an. »Johann Wolfgang von Goethe.«
    Okay. Ich leg mich fest: Rufus und Natalie hatten definitiv noch keinen Sex. Das heißt, Natalie wahrscheinlich schon, nur eben nicht mit Rufus. Zum Glück flackert in diesem Moment der Widerschein einer Taschenlampe in der Tunnelbiegung auf. Ich nehme die Fahrradlampe und leuchte in den Tunnel hinein. Kurz darauf sind Schritte zu hören, die sich über den schlierigen Bordstein tasten.
    »Partner?«, rufe ich.
    »Das überlege ich mir noch«, schallt Phils Stimme zurück.
    Dann ist er da, und der Lichtkegel seiner Lampe gleitet über den Bootsrumpf. Er hat eine von diesen coolen Stablampen, wie sie in amerikanischen Krimis immer von den Polizisten benutzt werden – so groß, dass ich sie als Kletterstange benutzen könnte. Schließlich brezelt Phil mir damit ins Gesicht, und ich muss mit den Klauen die Augen abschirmen.
    Er pfeift durch die Zähne: »Wo habt ihr denn das her?«
    »Hab’s gefunden«, gebe ich zurück und bedeute ihm, dass er die Lampe runternehmen soll.
    Er betrachtet das Heck: »Doppel-Außenborder, gemäßigter V-Boden … Von so einem hab ich früher geträumt.«
    Gemäßigter V-Boden. Was ist das hier – eine Verschwörung?
    Natürlich fühlt sich Rufus sofort angesprochen. »Zweiundachtzig Zentimeter Rumpflänge, liegt perfekt im Wasser. Als Antriebsaggregat hab ich eine Starterbatterie eingebaut, vierzehn Amperest–«
    »Rufus!«, unterbreche ich ihn.
    »Was?«
    »Weshalb sind wir hier?«

    Phil reicht mir seine Stablampe, zieht sich Latexhandschuhe über, wartet, bis sich der Haarschopf an der Oberfläche zeigt, greift hinein und zerrt den Kopf so weit zu sich heran, dass er die Leiche an der Jacke greifen kann. Der Typ ist schwer. Genau wie die Stablampe. Ohne Scheiß – genauso gut hätte mir Phil einen Laternenpfahl geben können. Groß ist er ebenfalls, der Typ. Und aufgedunsen. Hände, als hätte Phil ihm seine aufgeblasenen Handschuhe übergezogen. Mein Partner schnauft und flucht. Bis er den leblosen Körper auf den Bordstein gewuchtet hat, ist er ganz schön außer Atem. Mir dagegen zittern die Knie.
    Mühsam dreht Phil die Leiche auf den Rücken, hockt sich hin, blickt ihr ins Gesicht und legt den Kopf schief: »Gib mal die Lampe«, sagt er und streckt die Hand aus.
    »Guter Witz«, keuche ich, während ich mit dem Monstrum über die Heckplattform taumele.
    Phil erhebt sich, langt ins Boot und nimmt mir das schwarze Riesending ab. Dann steht er neben dem Toten und taucht dessen aufgequollenes Gesicht in leuchtendes Weiß, als könne er ihm auf diese Weise neues Leben einhauchen. Wieder legt er den Kopf schief. Eine merkwürdige Stille tritt ein. Rufus und ich werfen uns fragende Blicke zu. Als Phil erneut neben dem Toten in die Hocke geht, begreife ich endgültig, dass hier gerade etwas krass Außergewöhnliches abgeht.
    Mit einer beinahe zärtlichen Geste streicht Phil dem Toten die schmierigen Haarsträhnen aus der Stirn. Scheiße, denke ich, der kennt den. Ich greife nach der Fahrradlampe, leuchte meinem Partner ins Gesicht und erstarre. Hinter Phils Augen tut sich ein Abgrund auf, in den nicht einmal ein Schabrackentapir blicken könnte, ohne sich der Tragik seiner eigenen Endlichkeit bewusst zu werden. Die Falten in Phils Gesicht wirken wie in Stein geritzt, wie gefurcht vom niemals versiegenden dunklen Strom des Lebens. Scheiße, Mann, was geht hier ab?
    Schließlich steht er wieder auf, in Super-Slomo. Erst jetzt wird er sich des Lichts bewusst, mit dem ich ihn anstrahle.
    »Kannst ausmachen«, sagt er, und die Worte plumpsen ins Wasser wie Mühlsteine. »Was es zu sehen gibt, hab ich gesehen.«
    Wer schon einmal in so ein Gesicht geblickt hat, der weiß, was es bedeutet, wenn einem die Worte fehlen. Ich würde gerne etwas sagen, meinem Partner Trost spenden. Doch ich komme mir vor wie ein Flamingo, der eine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen soll.
    Rufus

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