Voll Speed: Roman (German Edition)
macht den Eindruck, als habe er vergessen, wie er heißt und wo er wohnt.
Ich muss den ratlos aussehenden Typen eine ganze Weile lang anstarren, bevor mir aufgeht, dass es Boris ist. Allerdings scheinen zwischen dem Boris auf den Fotos im Flur und dem auf dem Zeitungsbild nicht nur viele Jahre Altersunterschied, sondern auch viele Kilo Körpergewicht zu liegen. Abgesehen davon, sieht er so aus, als hätte ihm das Schicksal ein paarmal zu oft auf die Fresse gehauen: jemand, der nur aus alter Gewohnheit immer wieder aufsteht und nicht, weil er weiterkämpfen will. Der Wagen aber ist cool.
»Akkurater Schlitten«, sage ich.
»Vergiss mal für einen Moment das Auto.« Phil tippt mit dem Finger auf die Plane, unter der die Schuhe hervorschauen.
»Rahmengenäht«, sage ich, ganz der Privatermittler. »Ledersohle …« Jedes Detail zählt. »Auf jeden Fall nicht billig.«
»Der Typ, der in den Schuhen steckt«, erklärt Phil, »ist Tibor Nagy.«
»Tibor Nagy?«
»Tibor Nagy war Boxpromoter – mit einem eigenen Stall. Hatte eine Reihe hochkarätiger Boxer am Start. Zwielichtiger Typ. Verbindungen in alle möglichen Richtungen …«
»Wie ungewöhnlich für einen Boxpromoter«, werfe ich vorwitzig ein. Ich weiß nicht viel über das Boxgeschäft, aber dass ein Promoter halbseidene Connections hat, ist ungefähr so selten wie ein Stachelschwein mit Stacheln.
Phil fährt fort: »Allem Anschein nach hat Boris für Nagy gearbeitet – als Fahrer und Bodyguard.« Mein Partner lässt die Information einen Moment sacken. »Vor zwei Wochen ist Nagy auf offener Straße erschossen worden. Zwei Männer auf einem als gestohlen gemeldeten Motorrad – im Vorbeifahren. Drei Schüsse, drei Treffer. Zwei in die Brust, einer in den Hals. Nagy war auf der Stelle tot. Und Boris stand daneben.«
»Sieht nicht gut aus, oder?«, überlege ich beim Blick auf das Foto. »Ich meine, hätte Boris nicht irgendwas … machen müssen – zurückschießen oder so?«
»Ging wohl alles sehr schnell … Aber du hast recht: Gut sieht das nicht aus.« Phil studiert das Bild, als überlege er, ob das noch derselbe Boris ist, der damals sein Partner war. »Im Zuge der Ermittlungen scheint Boris dann selbst ins Visier der Kripo geraten zu sein. Hier steht, ihm sei ein Verhältnis mit Nagys Frau Piroschka nachgesagt worden.«
»Er hat das Weibchen seines Chefs begattet?«
»Steht nicht direkt in dem Artikel, ist aber so gemeint.«
»Au backe«, überlege ich. »Wenn einer von uns mit Roxy rummachen würde, und Rocky würde das spitzkriegen …«
Zum ersten Mal, seit wir die Wohnung betreten haben, wendet mir Phil seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu: »Was wäre dann?«
»Also, der könnte sich mal ganz fix nach einem neuen Clan umsehen.«
»Hm«, überlegt Phil, »und was wäre, wenn Roxane und ihr Geliebter sich eine gemeinsame Zukunft wünschten?«
»Dann müssten sich eben beide ganz fix nach einem neuen Clan umsehen«, erwidere ich. »Würde aber nicht passieren.«
»Und warum nicht?«
»Weil es nichts gibt, worauf Roxy mehr stehen könnte, als die Frau des Clanchefs zu sein.«
»Und was wäre, wenn ihr Geliebter der neue Clanchef werden würde – falls Rocky stirbt? Dann könnte sie Clanchefin bleiben, wäre mit ihrem Geliebten zusammen und müsste den Clan nicht verlassen.«
Mir läuft es eiskalt das Rückgrat hinab: »Wie bist du denn drauf?«, schimpfe ich. »Sone Scheiße gibt’s bei uns nicht, Mann. Nicht mal Nashornkäfer machen so was. Wir sind doch alle Geschwister!«
»Vielleicht liegt ja da der entscheidende Unterschied.«
»Wo jetzt?«
»Piroschka und ihr Mann waren keine Geschwister.«
Unwillkürlich beginnen meine Krallen von neuem, Rillen ins Linoleum zu ritzen. Wie wäre das bei uns, überlege ich, wenn Roxy und Rocky keine Geschwister wären? Schwer zu sagen. Bin nie einem Erdmann begegnet, der nicht zur Familie gehörte. Was ich jedoch weiß, ist, dass Phils Frauenbild durch die Geschichte mit Constanze echt gelitten hat. Neuerdings scheint er dem weiblichen Geschlecht grundsätzlich alles zuzutrauen.
»Du glaubst wirklich, Piroschka hätte ihren Mann aus dem Weg räumen lassen, und Boris hätte daneben gestanden und weggesehen?«
»Ich glaube gar nichts. Aber ausgeschlossen ist es nicht.«
»Dann müsste diese Piroschka aber eine ganz schön durchtriebene Schlampe sein«, gebe ich zu bedenken.
Phil raschelt in dem Stapel ausgeschnittener Zeitungsartikel und zieht ein ganzseitiges Foto hervor, das
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