Voll Speed: Roman (German Edition)
Leuchtschweife über den Horizont, bevor sie von den schattenhaft aufragenden Bäumen des Tiergartens verschluckt werden. Mein Adrenalinpegel sackt langsam in den Keller. Genau wie mein Blut, das mir in die Beine sackt, die sich wie Teig anfühlen und einen leeren Kopf zurücklassen. Was für ein Tag.
Auf dem Weg in unseren Bau kann ich vor Müdigkeit keine zwei Gedanken aneinanderreihen. Wie durch Glas beobachte ich daher meine Hinterpfoten, die scheinbar ferngesteuert über den von herbstlichem Glanz überzogenen Teerweg tapsen.
»Hallo, Ray.«
Eine seidige Stimme streichelt mein Ohr. Ungefähr eine Zehntelsekunde später ist die Information, dass es sich dabei um Elsas Stimme handelt, in mein Bewusstsein gedrungen. Da sieht man mal, wie sehr mich dieser Tag gerockt haben muss: wenn ich nicht einmal mehr bemerke, dass ich an Elsas Gehege vorbeigehe.
»n’Abend, Elsa«, erwidere ich, ohne den Blick vom Asphalt zu nehmen.
Drei Schritte weiter vernehme ich ihre Stimme erneut: »Wo willst du denn hin?«
Wie sie das anstellt, weiß ich nicht, aber es ist, als ob sie ihr zartes Schnäuzchen direkt an mein Ohr hielte. Und schwupps, schon arbeitet sich mein Adrenalinpegel wieder aus dem Keller heraus. »Ich wollte …« Zwei Worte sind schon ganz gut, denke ich, aber ein paar mehr würden sicher nicht schaden, »… in den Bau zurück?«
»Und? Hast du es eilig?«
Das Fell in meinem Nacken richtet sich auf. Ich weiß, es ist beschämend banal, aber ihre Stimme ist wie ein Liebestrank in meinen Ohren. Stärker als ich.
»Ich bin ziemlich müde, weißt du?«, lalle ich. »War ein langer Tag.«
»Aber er ist noch nicht zu Ende, oder?«
Nach diesen Worten schlagen die Wellen meines Adrenalinpegels locker bis hoch in den zweiten Stock. Ohne es unterdrücken zu können, wandert mein Blick den Hügel zu ihrem Gehege hinauf.
Ein fataler Fehler.
Elsa hat ihren fluffigen Körper aufgerichtet, steht auf den zierlichen Hinterbeinen mit den zarten Fesseln und umfasst mit den grazilen Zehen ihrer Vorderfüße die Stangen des Geheges. Ihre helle Bauchseite schimmert im Schein der fernen Straßenlaterne wie flüssiges Mondlicht. Kein lebendes Wesen könnte einer solch diabolisch-sinnlichen Verheißung widerstehen.
Warum ich? Warum heute? Nach endlosen Monaten der Abweisung, nach all den ungezählten Demütigungen, Abfuhren, Stiefeltritten in mein geschundenes Herz?
Ich bin bereits zur Hälfte den Hügel zu ihrem Gehege hinaufgestolpert, als ich wieder zu mir komme. Wahrscheinlich gibt es eine Antwort auf meine Fragen, aber wen interessiert das schon? Wer zählt schon die Stiefeltritte, wenn der Gesang der Sirene ertönt?
Elsa drückt ihr Bauchfell gegen das Gitter. »Du siehst wirklich müde aus«, haucht sie mitfühlend. »Was ist? Komm ruhig her. Ich beiß schon nicht.« Sie zwinkert mir zu. »Jedenfalls nicht so, dass es weh tut. Oder nur ein bisschen.«
Wie von unsichtbarer Hand geschoben, taumele ich zu ihr hin und klatsche mit der Nase gegen das Gitter.
»Hoppla«, flüstert sie, »so stürmisch, mein Süßer?«
Als ich merke, wie sie meine Vorderpfote umfasst, sie durch das Gitter zu sich heranzieht und zärtlich auf ihr Bauchfell legt, ist mein Adrenalin im obersten Stockwerk angelangt und flutet das Dachgeschoss. Zwanzigtausend Haare pro Quadratzentimeter – hat Rufus mir gesagt. Klingt nach verdammt viel, finde ich. Das dichteste, seidigste, flauschigste Fell im Universum. Und ich spüre jedes einzelne dieser zwanzigtausend Haare, wie es meine Klaue elektrisiert. Aus dem Augenwinkel nehme ich noch kurz Elsas anmutig gerecktes Puschelschwänzchen wahr, dann tauche ich in den schwarzen Quell ihrer Augen ein.
Ups: Auch mein Puschelschwänzchen reckt sich: In nie gekannter Weise. Wenngleich mir das Wort »anmutig« in meinem Fall eher unpassend erscheint. Gewaltig träfe es besser, enorm, gigantisch. Monumental!
Als Elsa jetzt flüstert: »Lass es einfach geschehen, Ray«, da bilde ich mir nicht länger ein, dass sie ihr so verletzliches Schnäuzchen an mein Ohr hält. Sie tut es tatsächlich. Ich spüre, wie ihre zwanzigtausend Haare pro Quadratzentimeter durch das Gitter hindurch zärtlich über meinen Bauch streichen, wie kalt die Metallstäbe sind, wie warm ihr Fell, und dann spüre ich ihre Pfote, die sich in meinen Nacken schmiegt, während die andere entlang meiner Leiste streicht, bis sie gefunden hat, wonach sie sucht, was nicht lange dauert, da sich mein Puschelschwänzchen zu monumentaler Größe
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