Voll streng, Frau Freitag!: Neues aus dem Schulalltag (German Edition)
Stulpen. Eigentlich sieht sie wie eine Studentin aus. Sie hat bisher noch gar nichts gesagt, nur die ganze Zeit auf den Bildschirm gestarrt. Jetzt guckt sie mich plötzlich an. »Also, nach meiner Erfahrung ist es immer besser, sich mit Einzelschicksalen zu beschäftigen als mit der Gesamtheit. Wenn man hört, dass sechs Millionen Juden ermordet wurden, dann kann sich das eh kein Mensch vorstellen. Aber wenn man zum Beispiel das Tagebuch der Anne Frank liest oder sich mit Kindern und Jugendlichen, die im Dritten Reich verfolgt wurden, beschäftigt, dann wird es doch für die Schüler schwieriger, sich zu distanzieren. Vielleicht solltest du mit deiner Klasse mal in ein Konzentrationslager fahren oder dir ein oder zwei Einzelschicksale raussuchen, mit denen sich die Schüler dann identifizieren können.«
Ich erzähle, dass Asmaa Anne Frank schon gelesen hat. Sogar freiwillig, aber das hat sie wahrscheinlich schon wieder vergessen.
Plötzlich die modische Frau: »Gibt es nicht irgendwelche Literatur für Jugendliche, die die Judenverfolgung aus der Ich-Perspektive eines Jugendlichen beschreibt, ohne dass sofort klar wird, dass es sich um Juden handelt? Also quasi Anne Frank , aber inkognito?«
Niemandem fällt auf Anhieb so ein Buch ein. Die Grundschullehrerin schlägt vor, dass ich einen Menschen jüdischen Glaubens einlade, der sich mit den Schülern unterhält. »Der müsste so richtig cool und lässig sein. Und einen Tag später musst du dann aufdecken, dass der jüdisch war. Und dann mal gucken, was sie sagen.«
»Und wenn sie den nicht cool und lässig, sondern doof und langweilig finden?«, gebe ich zu bedenken. Und überhaupt, wo sollte ich denn diesen lässigen Juden für so ein Selbstmordkommando finden?
»Mein Vorschlag ist immer noch Strafanzeige.« Der Jurafreund macht sich ein Bier auf.
Der Graphiker hat sich den Laptop genommen und recherchiert bei YouTube: »Es gibt doch total viel Filmmaterial dazu. Wenn du das zeigst, dann sagst du bei jeder Massenerschießung, bei jedem Judentransport, bei jedem Massengrab und bei jeder Aufnahme von Verhungerten, dass die Nazis die Araber auch nur als Mittel zum Zweck benutzt haben. Wenn das nicht hilft, dann die Schraube ein wenig anziehen: den Shoa -Film zeigen, und wer lacht, der muss Berichte von KZ-Überlebenden vorlesen, und wenn das nicht reicht: Bilder von Menschenversuchen zeigen. Und wenn das immer noch nicht reicht – direkt eins auf die Schnauze.«
Die Grundschullehrerin rümpft die Nase. »Also, ich finde, du solltest eine Sonderstunde machen, in der du den Schülern Einzelschicksale vorliest, und zwar nicht nur welche, die während des Holocausts spielen, sondern Kurzgeschichten, die von Erlebnissen mit Fremdenhass aus der ganzen Welt und zu jeder Zeit erzählen. Vielleicht auch was, wo Türken oder Muslime angefeindet werden.«
»Türken sind Muslime«, sagt der Graphiker. So bekommt er sie nie ins Bett.
»Ja, ja, weiß ich ja«, sagt die Grundschullehrerin. Pikiert, wo sie doch gerade DIE Lösung gefunden hat. »Und du könntest vielleicht auch zwei Geschichten daruntermischen, in denen es ein Happy End gibt, wo also Freundschaft oder zumindest Vernunft über Hass triumphiert. Ich würde vielleicht sogar den üblichen Unterrichtsrahmen etwas ändern, indem ich die Einheit nicht weiter ankündige oder erkläre. Und ich würde die Schüler aus der gewohnten Sitzordnung nehmen und sie gemütlich auf dem Boden sitzen lassen. Vielleicht sogar Kerzen aufstellen und vorher den Raum abdunkeln.«
Ich stelle mir vor, wie meine Klasse in einen abgedunkelten Raum kommt, in dem es keine Stühle mehr gibt. Und ich höre sie: »Was das, Frau Freitag? Wo sind die Stühle?« – »Ich sitz doch nicht auf dem behinderten Boden!« – »Ist doch übertrieben dreckig da. Ich hab weiße Hose an.«
»Hast du denn eine Idee, was das für Kurzgeschichten sein sollen? Gibt es da eine Sammlung? So Geschichten mit Fremdenhass aus aller Welt ?«, frage ich die Grundschulkollegin. Ihr fällt kein Buch ein.
»Na ja, ist gar nicht so einfach, aber irgendwas muss ich mit denen machen«, sage ich. Der Graphiker ist immer noch im Internet unterwegs und fängt jetzt an zu kichern. »Hier, kennt ihr dieses Video, mit den zwei alten Frauen und dem Auto, das ist so lustig.«
Ich gehe aufs Klo und denke an meine Klasse. Holocaustüberlebende einladen, KZs besuchen … bei meinen Schülern ist das Problem etwas anders gelagert. Der »normale« deutsche Antisemitismus ist ja
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