Voll streng, Frau Freitag!: Neues aus dem Schulalltag (German Edition)
Anmeldung nicht rechtzeitig abgegeben hat.
Fräulein Krise sagt dazu nur: »Wenn dich keine Schuld trifft, warum erwähnt sie dich dann überhaupt? Sie könnte doch auch schreiben, meine Schwester trifft keine Schuld, meinen Bäcker trifft keine Schuld …«
Verdammt noch mal, die sollen endlich Verantwortung übernehmen, mit dem Lügen aufhören und einfach erwachsen werden!
Am nächsten Tag habe ich gar keine Lust auf meine beliebte Taktik der paradoxen Intervention bei Bilal. Manchmal ist der Enthüllungsimpuls einen Tag später einfach weg. Ich frage ihn, wie es seiner Mutter geht. Er: »Besser.« Dann erzähle ich, dass ich mit seiner Schwester gesprochen habe. Er antwortet nur: »Die war gar nicht da und hat nichts mitbekommen.« Ich habe keine Lust mehr auf das ganze Thema. Soll er doch lügen, wie er will. Die Stunde ist für mich unentschuldigt, kommt als Fehlstunde auf sein Zeugnis, und das reicht dann auch.
Im Laufe des Tages teile ich Mariella und Emre mit, dass sie beide nicht zur Realschulprüfung zugelassen sind. Sie nehmen es recht entspannt hin. Müssen sie halt nichts vorbereiten. Ich hatte mit direktem Frustabbau gerechnet. Der blieb aus.
Mit Fatma führe ich abends auf Facebook einen privaten Diskurs zum Nahostkonflikt. Sie hat mir ein Video geschickt. Darin wird behauptet, dass Hitler noch lebt, aber unter anderem Namen. Bilder aus der NS-Zeit und Bilder aus Israel werden nebeneinandergestellt, darunter steht immer Deutschland und auf der anderen Seite Palästina. Zu sehen gibt es unter anderem Kinder, die im KZ am Zaun stehen. Dann Kinder vor einem Zaun in Palästina. Dann Soldaten im KZ mit Gewehren. Dann Soldaten mit Gewehren an der israelischen Grenze. Dazu traurige Musik und ein kurzer Text, dass man den zweiten Holocaust verhindern soll.
Fatma hatte mir dazu geschrieben, dass die Israelis doch heute das Gleiche mit den Palästinensern machten wie die Deutschen damals mit den Juden. Ich bin sehr detailliert darauf eingegangen und habe nachgefragt, ob es denn in Israel KZs gibt und ob dort Palästinenser vergast werden. Ich bin gespannt auf ihre Antwort.
Momentan verfolge ich lediglich das Ziel, dass sie genauer hinguckt und genauer definiert, was sie eigentlich sagen will. Außerdem möchte ich sie dafür sensibilisieren, dass Bilder kritisch betrachtet werden müssen.
Mir würde es schon reichen, wenn sie in Zukunft von Israelis und nicht von Juden spricht und die Religion da raushält. Sie spricht ja auch von Palästinensern und nicht von Muslimen. Nicht alle Muslime haben was mit dem Nahostkonflikt zu tun, und nicht alle Juden nehmen den Palästinensern irgendwas weg.
Sie hat sich noch mal dafür entschuldigt, was sie über die Bilder aus dem KZ geschrieben hat, und mir versichert, es in meinem Beisein nicht mehr zu tun. In ihren Kopf rein, dort eine kleine Gehirnwäsche vornehmen und alles neu sortieren, kann ich ja leider nicht, aber wenn sie sich in Zukunft differenzierter ausdrückt, dann ist schon mal was gewonnen.
Die Schüler haben dich doch gehasst
Es ist günstiger, wenn man sich Gesichter merken kann, als wenn man das nicht kann.
Eigentlich habe ich ein Supergedächtnis. Oft werde ich beneidet, vor allem von meinem Freund, dass ich mir alles, wirklich alles merken kann. Das nutzloseste Wissen wird in den unendlichen Weiten meines Hirns dauerhaft abgespeichert. Möchte jemand den Geburtstag der Exfreundin meines Exfreundes aus den achtziger Jahren wissen? Interessiert jemanden die Telefonnummer, die wir hatten, als ich acht war? Oder das Autokennzeichen von dem blauen Käfer, den meine Mutter fuhr, als ich neun war? Wann werde ich mal mitteilen müssen, an welchem Tag meine beste Freundin in der Grundschule zum ersten Mal ihre Tage bekommen hat? Ich würde gerne, aber ich kann diesen ganzen Informationsmüll einfach nicht löschen. Es war der 14.4.
Jedenfalls dürfte mir so etwas wie die folgende Episode eigentlich nicht passieren.
Ich will gerade die Schule verlassen, da steht plötzlich ein junger Mann am Schultor, der mir sehr bekannt vorkommt.
»Frau Freitag, schön, dich zu sehen«, begrüßt er mich. Ich erinnere mich auch an ihn. Er hatte vor ein paar Jahren mal bei uns unterrichtet. Jetzt steht er da, mit einer großen Schachtel Pralinen. Er erzählt und erzählt, an welchen Schulen er überall unterrichtet hat. Jetzt will er anscheinend bei uns sein Referendariat machen.
Ich gucke ihn die ganze Zeit an und versuche ihn einzuordnen. Dann hab ich es: Er hat
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