Voll streng, Frau Freitag!: Neues aus dem Schulalltag (German Edition)
denn?«
Jetzt kann alles kommen. Ich versuche, in den Gesichtern meiner Schüler zu lesen. Wird das was mit dem neuen Lehrer oder nicht? Es schreit schon mal keiner auf: » Abooo , er ist voll behindert, der Mann.« Eigentlich ein gutes Zeichen.
»War nett«, sagt Elif.
»Der ist lustig«, sagt Bilal.
»Habt ihr denn gut mitgemacht im Unterricht?«, frage ich.
Funda: »Frau Freitag, wir haben noch gar keinen Unterricht gemacht. Wir haben uns nur kennengelernt.«
»Kennengelernt?«
»Ja, wir haben so gequatscht. Abdul hat so seine Storys erzählt.«
Der arme neue Lehrer. Funda sieht, was ich denke: »Nein, Frau Freitag, keine Angst, war echt voll nett, und er fand Abdul voll lustig. Und er hat uns sein Leben erzählt.«
»Echt?«
»Ja, Sie müssen nett sein zu ihm, er hatte früher immer Ärger mit Lehrern. Und mit Schulleitern und so. Aber wir haben gesagt, da muss er hier keine Angst haben, die sind alle nett. Hier sind nur die Schüler blöd.«
»Wissen Sie, wie er aussieht, Frau Freitag? Er sieht voll aus wie aus der Zalando-Werbung. Voll ein Hippie«, ruft Funda.
Stimmt. Ich hatte ihn kurz vor den Ferien im Lehrerzimmer kennengelernt: Nickelbrille, lange Haare, Zopf: Hippie.
»Ich habe gefragt, ob er schon über 60 ist«, sagt Asmaa.
Funda: »Ja, hahaha, aber er ist erst 48. Und er hat gefragt, ob er schon so alt aussieht.«
»Na, da hat er sich sicher gefreut. Aber schön, dass es so gut lief. Bleibt mal dabei. Macht gut mit, und seid nett, ihr könntet alle gute Noten in Mathe gebrauchen. Und jetzt guckt mal auf das Arbeitsblatt von gestern. Wer liest denn mal die zweite Aufgabe vor?«
Sie lesen, ich erkläre. Sie lesen was in Englisch, ich übersetze, wir machen alle Aufgaben erst mündlich, dann noch mal schriftlich. Alle arbeiten, alle verstehen alles. Keiner stört, beim Schreiben ist es total still. Draußen scheint auch noch die Sonne. Kurz vorm Klingeln trage ich jedem eine gute Mitarbeitsnote ein, und wir gehen gemeinsam in die Pause. Im Referendariat hätte man mir diese recht lehrerzentrierte und ziemlich unmoderne Stunde um die Ohren gehauen. In der Realität haben mich diese 45 Minuten glücklich gemacht.
Auf euch wartet keiner
Neulich habe ich was voll Gutes im Fernsehen gesehen. Eine Dokumentation über drei Wuppertaler Hauptschüler, die vom Tag ihres Schulabgangs an für zwei Jahre begleitet werden. Der Titel Auf euch wartet keiner – sehr schön. Begeistert klebte ich vor der Glotze.
Michelle: »Ich will Floristin werden.«
Ivan: »Ich Feindingensmechaniker.«
Florian: »Ich will zur Bundeswehr.«
Und dann: härtester Realitycheck.
Ivan: »Huch, mit dem schlechten Zeugnis werde ich gar nicht überall genommen?«
Florian: »Äh, ich wollte mich doch für zwölf Jahre verpflichten und dort eine Ausbildung zum Koch machen. Äh, und jetzt nehmen die da nur Realschüler? Hm, na ja, mache ich erst mal Schule, dann mache ich den Realschulabschluss nach und dann …«
Michelle: »Super, ich habe gleich ein Praktikum als Floristin bekommen!«
Und dann nach einem Jahr: Michelle: »Das ist doch Ausbeutung, ein Praktikum … Das habe ich geschmissen. Jetzt habe ich viele persönliche Probleme, da kann ich mich nicht so um Bewerbungen kümmern.«
Florian: »In Mathe hatte ich eine zu schlechte Note, nee, den Realschulabschluss habe ich nicht bekommen. Tja, jetzt muss ich mal sehen. Ich habe gleich einen Termin beim Arbeitsamt. Aber ich finde mein Zeugnis nicht.«
Michelle: »Ich suche jetzt erst mal eine eigene Wohnung – ich will mit meinem Freund zusammenziehen.«
Ich konnte mich gar nicht sattsehen. »Freund, Freund, komm mal, guck dir diese Traumtänzer an! GENAU WIE MEINE KLASSE! ABER ORIGINAL! Nie sind sie selbst Schuld an irgendetwas. Immer die anderen. Die Umstände, die Scheiß-Firma, der Staat, die vielen persönlichen Probleme.«
Das MÜSSEN meine Schüler sehen. Ich habe schon alles geplant: Sie kommen rein. Der Beamer steht schon, wortlos drücke ich auf play und warte. Das müssen die sich reinziehen. Die Sprüche von diesen Schülern im Film, die höre ich täglich. Dann können sich meine Schüler mal angucken, wie es ihnen in den nächsten zwei Jahren ergehen könnte. Und wenn sie fertig geguckt haben, dann mache ich aus und dann: stummer IMPULS. Einfach warten, was sie sagen. In der nächsten Kunststunde werde ich genau das machen, das wird herrlich.
Haben Säugetiere auch deren Tage?
Fräulein Krise erzählt mir am Telefon von ihrem Tag. Ich durchstöbere
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