Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
nur wenige Jahre. Auf dem Weg in die Unterbeschäftigung waren dies der Gründerkrach 1873, der tragische wirtschaftliche Fehlstart der Weimarer Republik in den frühen 1920er-Jahren sowie die Ölkrisen und anschließenden Rezessionen 1973 bis 1975 und 1979 bis 1982. Auf dem Weg in die Vollbeschäftigung waren es der Wachstumsschub in den 1890er-Jahren der Wilhelminischen Zeit und das deutsche Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren.
Es bleibt die große Frage: Ist die merkwürdige Rezession 2009 ein erster Vorbote eines neuen Strukturbruchs, und zwar in Richtung Vollbeschäftigung, also einer neuen, siebten Wechsellage? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nochmals hineintauchen in die Zeiten vor und nach 1973. Diese enthalten den Schlüssel zur Antwort, denn sie zeigen, wie der Arbeitsmarkt im bundesdeutschen Wirtschaftssystem mit Wachstum und Strukturwandel der Volkswirtschaft sowie demografischen Veränderungen umgeht. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich eine vernünftige Vorstellung gewinnen, wie die Zukunft aussehen könnte.
1.3 Bis 1973: Das gefährdete Paradies
Im historischen Rückblick auf die Nachkriegszeit ist der Startpunkt unstrittig: Der Weg in die Vollbeschäftigung begann im Juni 1948. Mit der Wirtschafts- und Währungsreform wurde die westdeutsche Wirtschaft in die marktwirtschaftliche Welt hineingeworfen, praktisch von einem auf den anderen Tag. Alle rechneten von nun an wieder „ökonomisch scharf“, und zwar auf der Grundlage eines neuen Geldes, das Vertrauenswürdigkeit und Stabilität schuf, wie sich schnell herausstellte. Die Konsequenz war, dass es trotz stabiler Wirtschaftslage und kräftiger Umsatzsteigerung doch vorübergehend zu einer deutlich steigenden Arbeitslosigkeit kam. Dies lag vor allem daran, dass sich viele Vertriebene aus den früheren Ostgebieten erst jetzt arbeitslos meldeten, weil sie bisher in gewerblichen Unternehmen und vor allem in der Landwirtschaft als geduldete Hilfskräfte tätig waren; die sollten schnellstmöglich verschwinden, sobald sich die Lage normalisierte. Diese Anpassung war im Wesentlichen im Frühjahr 1950 vollzogen, mit dem Ergebnis, dass die Arbeitslosenquote im März des Jahres mit rund elf Prozent einen Höhepunkt erreichte.
Etwa von diesem Zeitpunkt an begann ein rasantes Wachstum von Produktion und Beschäftigung. In wenigen Jahren war das „Problem“ der zehn Millionen Vertriebenen gelöst: Praktisch alle von ihnen, die Arbeit suchten, fanden auch Arbeit. Sie waren nach dem Krieg zunächst als Flüchtlinge vor allem in den eher ländlichen Regionen Norddeutschlands und Nordbayerns gestrandet, also in jenen Gebieten, die ihrer früheren Heimat in Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen und Mähren landschaftlich und landsmannschaftlich am nächsten standen. Genau dort schnellte deshalb die Arbeitslosigkeit in die Höhe, und es entstand vorübergehend ein enormes regionales Gefälle der Arbeitsmarktlage in Westdeutschland, wie es zuvor noch nie existiert hatte. Dieses Gefälle – grob gesprochen von Nordost nach Südwest – schmolz allerdings in wenigen Jahren mit der Arbeitslosigkeit selbst dahin, da die Vertriebenen als eine Art mobile Reserve des Arbeitsmarkts wirkten, die ohne Zögern in die industriellen Zentren des Südens und Westens wanderten, sobald dort die nötigen industriellen Arbeitsplätze entstanden.
All dies geschah überaus schnell – so schnell, dass bald von einem Wirtschaftswunder gesprochen wurde, weil selbst die größten Optimisten eine solche Entwicklung nicht vorhergesagt hatten. Die Produktion der westdeutschen Wirtschaft wuchs im Zeitraum 1950 bis 1960 real um atemberaubende 120 Prozent (!), also 8,2 Prozent p. a., und es gab nur eine einzige wirklich spürbare Wachstumsdelle – eine kurze Konjunkturschwäche 1958, die wie ein erstes Wetterleuchten die künftige Dauerkrise des Kohlebergbaus anzeigte. Im Grunde lag der einzige Wachstumsengpass darin, an den Zielorten der Binnenwanderung, die auch gleichzeitig die Zentren der industriellen Expansion waren, die nötigen Wohnungen zu bauen, um die neuen Arbeitskräfte mit ihren Familien aufzunehmen. Dies gelang trotz der herrschenden Kapitalknappheit und entsprechend hoher Zinsen, auch dank groß angelegter Programme des sozialen Wohnungsbaus.
Wo aber lagen die tieferen Gründe für das wundersame industrielle Wachstum? Im Nachhinein fällt es relativ leicht, sie zu identifizieren. 21 Es sind im Wesentlichen zwei, ein globaler und ein nationaler.
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