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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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oder vermeintlich – in den Vereinigten Staaten gab. Es war aber schon eine grundlegende Anpassung der Ordnung an neue Verhältnisse und Herausforderungen. Vor allem aber bedeutete es auch eine Art „klimatische“ Veränderung der Gesellschaft: Fast überall hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Staat die Probleme am Arbeitsmarkt nicht lösen konnte; dafür waren seine Instrumente der Arbeitsmarktpolitik viel zu bescheiden und stumpf, selbst wenn man sie, wie nach der Wiedervereinigung geschehen, in der Anwendung massiv aufstockte. Jeder Einzelne, so die Botschaft, musste seinen Beitrag leisten – von den Arbeitnehmern, die moderate Lohnabschlüsse akzeptierten, bis hin zu den am schlimmsten Betroffenen, den Langzeitarbeitslosen.
    Wohlgemerkt: Einzelne Gruppen der Gesellschaft – allen voran die Gewerkschaften – protestierten laut gegen Lohndumping, Sozialabbau und die Spaltung der Gesellschaft, die sich im Zuge der schmerzhaften Anpassung vollzog. Bei genauem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass die Gewerkschaften selbst an vielen Schlüsselstellen dieses Prozesses letztlich pragmatisch mitwirkten – unter Protest zwar, aber wohl stets in dem bitteren Bewusstsein, dass sonst ihr Einfluss noch mehr schwinden würde, als er es ohnehin schon tat. Besonders markante Beispiele dafür bieten das Fortschreiten der Zeitarbeit und die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland. In Anbetracht der stark zunehmenden „Leiharbeit“, so die despektierliche Bezeichnung für die Zeitarbeit, ließ der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Tarifverträge abschließen, 52 die explizit eine Differenzierung zwischen Zeitarbeitern und Stammbelegschaft von Unternehmen zuließen, natürlich zuungunsten der Zeitarbeiter. Sie taten dies, um überhaupt noch einen gewissen Einfluss wahren zu können und die Stammfacharbeiterschaft, die klassische Gewerkschaftsklientel, nicht noch mehr zu verprellen. In Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit im Osten wurden von DGB-Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen, die auf Dauer weit entfernt waren von den Bedingungen im Westen. So zahlte etwa das Friseurhandwerk im Osten noch Mitte des letzten Jahrzehnts Stundenlöhne von unter vier Euro, ein Drittel weniger als im Westen und damit auf einem absoluten Niveau, das in allen politischen Forderungen des DGB als inakzeptabel bezeichnet wurde. 53
    Diese Haltung des DGB war politisch pragmatisch und wirtschaftlich vernünftig. Sie rettete das Gesicht der Großorganisation und trug gleichzeitig den harten wirtschaftlichen Realitäten Rechnung. Sie half damit, vorhandene Arbeitsplätze zu retten und neue entstehen zu lassen. Sie zeigt allerdings auch, wie stark die deutsche Arbeiterbewegung in die Defensive geraten war, und zwar nicht nur durch die überall wirkenden Kräfte des Strukturwandels, sondern vor allem auch die spezifisch deutsche Situation nach der Wiedervereinigung. Es war ein dramatischer Verfall an Marktmacht im historischen Vergleich zu den 1960er- und 1970er-Jahren: Damals aus einer Position der Stärke die offensive Bereitschaft, politisch und sozial zu „kooperieren“, und als dies nicht die erwarteten Früchte bringt, die überaus harte Durchsetzung massiver Lohnsteigerungen; und danach fast vier Jahrzehnte lang der ständige Kampf, bei schwieriger Arbeitsmarktlage wenigstens einen Rest des traditionell starken Einflusses zu wahren.
    Was an Defensive für die Gewerkschaften gilt, das lässt sich in abgewandelter Form für die gesamte Generation der Babyboomer feststellen. Sie musste erleben, dass der Konkurrenzkampf über Jahrzehnte ihres Berufslebens nicht wirklich nachließ; und nach dem Fall der Mauer begannen sogar die jüngeren Jahrgänge, die durchaus nicht mehr so geburtenstark waren und insgesamt ein recht gutes Bildungsniveau aufwiesen, um ihre Berufschancen zu bangen. Die „Generation Praktikum“, wie sie in den letzten Jahren genannte wurde, 54 musste ein Maximum an Bereitschaft zeigen, sich zumindest beim Einstieg in den Arbeitsmarkt über längere Zeit mit unsicheren (weil befristeten) und eigentlich unattraktiven (weil mäßig bezahlten) Arbeitsplätzen zu bescheiden. Sie tat es – genau wie die Gewerkschaften – mit gelegentlichem Murren und Zaudern, aber insgesamt doch bemerkenswert anpassungsbereit.
    Genau mit dieser Flexibilität öffnete sich der Weg für die Wende am Arbeitsmarkt, die sich seit einigen Jahren abzeichnet. Nach mehr als drei Dekaden der Anpassung steht Deutschland als Industriestandort

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