Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Langzeitarbeitslosigkeit trug.
Der zentrale Gedanke war dabei sehr einfach: Die deutsche Arbeitslosenunterstützung gewährte nach Auslaufen des (versicherungsfinanzierten) Arbeitslosengeldes – zumeist nach einem Jahr – jedem Langzeitarbeitslosen die (steuerfinanzierte) Arbeitslosenhilfe, die sich wie das Arbeitslosengeld nach dem letzten Nettolohn bemaß und, wenn auch in der Theorie bedürfnisgeprüft (in der Praxis meist nicht!), unbefristet gezahlt wurde. Dies verminderte maßgeblich den Anreiz zur Suche von Arbeit zu niedrigeren Löhnen und unterstützte damit noch den natürlichen Prozess der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, der sich allein schon aus normalen psychologischen Prozessen der Demotivation ergab. 50
Genau diese Anreizwirkung des deutschen Sozialsystems wurde nun zum Gegenstand von Reformideen, aber auch von heftigen politischen Kontroversen. Dies kann nicht verwundern, denn die unerwünschte Anreizwirkung war letztlich die Konsequenz der sozialpolitischen Zielsetzung, eine Erwerbsperson, die vielleicht jahrzehntelang redlich gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, in ihrem Versorgungsniveau nicht auf die Stufe der Sozialhilfe fallen zu lassen, wenn sie unverschuldet langzeitarbeitslos wird. Der Falltyp, auf den genau dies häufig zutraf, waren gerade ältere Industriearbeiter und -angestellte, die zum unverschuldeten Opfer der industriellen Schrumpfung im Zuge des Strukturwandels wurden und für immer ihren gut bezahlten Arbeitsplatz verloren. Ihnen sollte nun zugemutet werden, entweder fortan auf Sozialhilfeniveau zu leben oder einen „Niedriglohnjob“ zu akzeptieren, der sich weder vom gesellschaftlichen Ruf noch von der Bezahlung her mit der früheren Tätigkeit in der Industrie messen konnte. Eben dies wurde weithin als ungerechter Sozialabbau empfunden.
Diesem Vorwurf hielten die Befürworter einer Reform entgegen, dass dem Dauerproblem der Langzeitarbeitslosigkeit nur beizukommen sei, wenn die Anreize zum Einstieg in Arbeit verbessert würden. Nur durch den sanften, aber zunehmenden Druck einer bevorstehenden Kürzung der Unterstützung würden viele Menschen erst dazu motiviert, endlich auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen. Diese könnten dann als eine Art Sprungbrett wirken, um zurück in den kommerziellen Arbeitsmarkt zu finden und dann auch wieder höhere Löhne zu erzielen. Dabei könnte der Staat für die Betroffenen einen sozialen Abstieg abfedern oder gar vermeiden, indem er den niedrigen Lohn am Markt mit Zuzahlungen aufstockte und damit im Übrigen den Anreiz zur Arbeitsaufnahme auch bei niedrigen Löhnen erhöhte. Denn bereits im herrschenden Sozialsystem gab es einen grundsätzlichen Zwang zur Aufnahme von angebotener Arbeit, aber der tat seine Wirkung nicht, eben weil die Aussicht auf einen sozialen Abstieg drohte.
So weit die grundlegenden Argumente, die damals intensiv ausgetauscht wurden. Es obsiegten schließlich die Befürworter einer Reform: Die rot-grüne Bundesregierung – seit 1998 im Amt – initiierte die „Hartz-Reformen“, benannt nach dem früheren Personalchef des VW-Konzerns, der einer Kommission vorsaß, die Bundeskanzler Schröder zur Prüfung und Vorbereitung der Reform einsetzte. Diese fand schließlich in vier Schritten statt („Hartz I bis IV“). Ihr zentraler und wichtigster Bestandteil war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die ersetzt wurde durch das sogenannte Arbeitslosengeld (ALG) II, das sich grundsätzlich nur mehr an der Höhe der früheren Sozialhilfe orientierte. Im Ergebnis lief die Reform darauf hinaus, ab einem Jahr des Bezugs von (versicherungsfinanziertem) Arbeitslosengeld eine Sozialhilfe greifen zu lassen, bei der allerdings durch die erheblich verbesserte Möglichkeit der Aufstockung von Markteinkommen die Aktivierung für den Arbeitsmarkt einen viel höheren Stellenwert bekam, als dies traditionell der Fall war. Viele weitere Regelungen unterstützten dieses zentrale Ziel – bis hin zur Einführung von sogenannten Ein-Euro-Jobs (im Amtsdeutsch: „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“), bei denen die Aufstockung lediglich darin bestand, dass pro Arbeitsstunde mindestens ein Euro (und maximal 2,50 Euro) mehr bezahlt wurde, als ohne Arbeit an sozialer Unterstützung vom Staat zu leisten wäre. 51
Die Hartz-Reformen sind politisch ein Meilenstein in der deutschen Sozial- und Arbeitsmarktgeschichte. Sie wurden in relativ breitem politischem Konsens verabschiedet
Weitere Kostenlose Bücher