Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Frage ist allerdings: Trifft sie auch wirklich zu? Für Deutschland lautet die Antwort: nur zum Teil. Was die Diagnose der Spaltung des Arbeitsmarktes betrifft, ist sie gut belegt. Was die Lohnentwicklung betrifft, ist sie es dagegen nicht. Denn seit es in Deutschland wieder Massenarbeitslosigkeit gibt, sind die Lohnkosten im Trend real zurückgegangen – moderat in den späten 1970er-, stärker in den 1980er- und seit den frühen 1990er-Jahren.
Der Grund ist einfach: Die starke Babyboomer-Generation (West und dann Ost), die auf den Arbeitsmarkt strömte, war und blieb eine harte Konkurrenz für die schon beschäftigten Insider. Mit diesen vielen jungen, motivierten, gut ausgebildeten Newcomern vor den Werkstoren hatten die Arbeitgeber durchweg eine starke Verhandlungsposition. Sie mussten keineswegs hohe Lohnzuwächse bieten, um die Insider zu motivieren, weiter ihre gewohnte Leistung zu bringen. Und die Insider selbst mussten stets vorsichtig sein, den Bogen ihrer Forderungen nicht zu überspannen. Das Ergebnis waren eine lang anhaltende Lohnzurückhaltung und dabei eine kräftige Zunahme der Beschäftigung. Der Arbeitsmarkt funktionierte also doch.
Jedenfalls für die Babyboomer. Sie wurden nicht zur verlorenen Generation. Aber es blieben die älteren Opfer der industriellen Schrumpfung. Viele von ihnen fanden den Weg nicht zurück ins Erwerbsleben. Sie lieferten den Grund dafür, warum die natürliche Arbeitslosenquote auf Dauer hoch blieb. Aber was war daran eigentlich „natürlich“?
Wie reagierte die Politik auf die Zweiteilung des Arbeitsmarktes? Die Antwort lautet: Sie tat eine Menge, aber nur mit sehr begrenztem Erfolg. Es war das Terrain der „Arbeitsmarktpolitik“, jenes Bündels an Maßnahmen, das im Wesentlichen in der Verantwortung der Bundesagentur für Arbeit lag, seit 2005 auch in weit geringerem Maße in der Hand von Kommunen. Die Bundesagentur (bis 2003: Bundesanstalt) für Arbeit mit Sitz in Nürnberg begann erstmalig Mitte der 1970er-Jahre mit Arbeitsmarktpolitik im großen Stil, nachdem die Erwerbslosigkeit massiv zugenommen hatte. Neben der Arbeitsvermittlung, die es in Deutschland seit 1927 als Aufgabe einer Reichs- und später Bundesanstalt gab, lag ein wichtiger Schwerpunkt fortan bei der Finanzierung, Organisation und Unterstützung von Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung und Umschulung sowie der Arbeitsbeschaffung. Mit der stufenweise steigenden Arbeitslosigkeit wurden die Programme im Volumen aufgestockt und in der Anwendung verbreitert. Sie erreichten einen bisherigen historischen Höhepunkt in den 1990er-Jahren, als es um die Reintegration der riesigen Zahl von Erwerbslosen in Ostdeutschland ging. 48
Im Mittelpunkt stand in zunehmendem Maße das zählebige Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Es gab eine wahre Batterie von Programmen, die allein darauf gerichtet waren, die Reintegrationschancen der Betroffenen zu verbessern. Alles in allem waren ihre Ergebnisse enttäuschend, und zwar umso mehr, je schwieriger die allgemeine Arbeitsmarktlage ausfiel. Programme der Arbeitsbeschaffung (oder in jüngster Zeit: Bürgerarbeit) erwiesen sich fast immer als rein sozialpolitische Maßnahmen, die zwar oft einem gemeinnützigen Zweck dienten, aber nur wenig dazu beitrugen, die Betroffenen in den kommerziellen Arbeitsmarkt zurückzuführen. Bei Programmen der Qualifizierung und Umschulung ist das Bild etwas differenzierter. Sie lieferten in durchaus zahlreichen Einzelfällen eine erste Basis zur Rückkehr in den Markt. In ihrer Gesamtheit aber waren sie nicht annähernd wirksam genug, um einen wesentlichen quantitativen Beitrag zur Lösung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit zu leisten. 49 Alles in allem also ein negatives Bild, das auch zunehmend in der Öffentlichkeit Beachtung fand. Der Staat war anscheinend hilflos.
Hartz-Reformen
Politisch wurde die Lage über die Jahre immer verzweifelter, zumal ab etwa Mitte der 1990er-Jahre die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland die 4.000.000-Grenze überschritt und der Anteil der Langzeitarbeitslosen weiter anstieg und sich der 40-Prozent-Marke näherte. Es begann deshalb eine öffentliche Diskussion über eine wirklich grundlegende Reform des deutschen Systems der Arbeitslosenunterstützung. Sie drehte sich im Kern um jene Erkenntnisse der Wissenschaft (vor allem der Arbeitsmarktökonomik), die empirisch recht eindeutig belegten, dass auch die Struktur des deutschen Sozialsystems Mitschuld an der zähen Fortdauer der
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