Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Zinsen waren niedrig, und es herrschte noch immer hohe Arbeitslosigkeit, selbst unter gut ausgebildeten Erwerbspersonen (zum Beispiel unter Ingenieuren, wie Schaubild 14 zeigt). Kaum jemand kam auf den Gedanken, zu vermuten, es könne irgendwann eine harte Konkurrenz um Innovationskraft geben. Tatsächlich ist dies auch heute noch die vorherrschende Stimmungslage. Gleichzeitig deuteten die Beobachtungen zum Klimawandel bis in die späten 1990er-Jahre auf einen überaus schnellen weltweiten Temperaturanstieg hin. Der scheinbaren Abundanz der menschlichen Innovationskraft stand für einige Jahre die globale Herausforderung in besonders greifbarer Dramatik gegenüber, eine ideale Konstellation, um weitreichende politische Entscheidungen in Richtung radikaler Veränderungen durchzusetzen.
Es bleibt das Rätsel, warum gerade Deutschland, was die Energiewende betrifft, viel weiter ging als fast alle anderen Industrienationen. Zu ähnlich waren nämlich über einen langen Zeitraum die wirtschaftlichen Grunddaten im internationalen Vergleich, als dass sie den deutschen „Sonderweg“ plausibel machen könnten. So ist eine Erklärung ohne Rückgriff auf das geistige Klima im Land kaum möglich. Eine wichtige Rolle spielt dabei sicherlich die lange Tradition des Idealismus, der in der deutschen Geschichte zumindest phasenweise die nüchternen politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte in den Hintergrund treten lässt. Blickt man mit kaltem rationalem Blick auf die Energiewende und ihre zugehörige Industriepolitik, so bleibt wirklich wenig an Substanz übrig: Für das Erreichen des globalen Klimaziels ist Deutschland zu klein; die Kosten an Umlenkung von Kapital und vor allem Innovationskraft sind hoch; die Erträge der Umlenkung sind ungewiss. Und schließlich: Ein vorsichtigerer, international koordinierter Weg wäre durchaus denkbar. Vor allem: Ein Offenlassen von Optionen heißt keineswegs, dass zu einem späteren Zeitpunkt nicht doch noch ein Umsteuern möglich wäre. Aber diese Zeit möchte man sich nicht geben, und zwar aus einem tieferen moralischen Empfinden heraus, dass dies unverantwortlich oder gar zynisch sei.
Vielleicht ist es gerade diese Idee der Zeit beziehungsweise ihres Fehlens, die den psychologischen Schlüssel zur Erklärung der öffentlichen Meinung liefert. Für die Wirtschaftswissenschaft gehört es zu den professionellen Selbstverständlichkeiten, zu prüfen, wann der optimale Zeitpunkt für bestimmte Maßnahmen ist. Dieser hängt typischerweise von einer Fülle von Parametern ab, über die sich – akademisch und politisch – streiten lässt. Ob und wann eine bestimmte Maßnahme sinnvoll ist, wird damit zu einer grundsätzlich pragmatischen Frage. Wichtig ist dabei: Etwas Gutes tun zu wollen impliziert keineswegs, es unbedingt gleich tun zu müssen. Denn unter Maßgabe der Gesamtkonstellation mag es richtig sein, damit zu warten. Dafür kann es viele Gründe geben: die Dringlichkeit anderer „guter“ Dinge; die Wirkungslosigkeit der Maßnahme zum Erreichen des gewünschten Ziels; die Erwartung neuen Wissens, das in der Zukunft die gesellschaftlichen Kosten der Maßnahme deutlich senkt. Aus Sicht des Ökonomen ist die genaue Abwägung der Datenlage deshalb ein Gebot der Verantwortungsethik und eine etwaige Entscheidung gegen sofortiges Handeln alles andere als Zynismus. Im Gegenteil, es ist das „überhastete“ genauso wie das „verschlafene“ Handeln, das es aus gesellschaftlicher Verantwortung zu vermeiden gilt.
Diese betont realistische Position der Ökonomie ist für eine Gesellschaft mit idealistischer Grundhaltung offenbar sehr schwer zu ertragen. Ihr wird schnell die Vorhaltung gemacht, sie sei verantwortungslos oder zynisch, mindestens aber blauäugig oder naiv. Dies gilt vor allem für sehr langfristige Weichenstellungen in einer Gesellschaft, denn diese lassen sich eben schwer in ein unstrittiges Datenkorsett zwängen. Es gibt deshalb großen Spielraum für alle möglichen Szenarien, von der apokalyptischen Großkatastrophe bis hin zur völligen Harmlosigkeit der Entwicklung. Die Frage des Klimawandels ist in dieser Hinsicht ein geradezu idealer Kandidat für alle möglichen Spekulationen, deren Wahrheitsgehalt ja erst in ein, zwei oder drei Generationen zum Test anstehen wird. Bis dahin sind fast alle Kombattanten an der öffentlichen Diskussion mindestens im Ruhestand, wenn nicht gar längst tot. Die Folge: Man kann ziemlich ungestraft gewagte Hypothesen formulieren,
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