Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Charakter einer Wette mit hohem Einsatz auf einen bestimmten Ausgang der Wirtschafts-, Klima- und Energiegeschichte im 21. Jahrhundert. Man ist sich anscheinend seiner Sache so sicher, dass man glaubt, auf alternative Optionen verzichten zu können.
Es dürfte auch klar sein, dass eine solche Strategie mit den Grundideen der sozialen Marktwirtschaft sehr wenig zu tun hat. Sie stellt insofern durchaus eine gezielte Abwendung von der traditionellen Philosophie unseres Wirtschaftssystems dar. Zwar ist es schwierig zu mutmaßen, was die ordoliberalen Väter der sozialen Marktwirtschaft wie Ludwig Erhard, Walter Eucken und Wilhelm Röpke zu einer Politik gesagt hätten, die sich mit einer globalen Herausforderung auseinandersetzt, von der sie zu ihren Lebzeiten noch nichts ahnen konnten. Gleichwohl ist doch zweierlei offensichtlich: Die Anmaßung des Wissens, die sich der Staat erlaubt, steht in krassem Widerspruch zu einer ordoliberalen Grundhaltung, die auf den „Markt als Entdeckungsverfahren“ (Hayek) setzt; und eine massive Subventionierung erneuerbarer Energien mit starker Lenkungswirkung des technischen Fortschritts passt überhaupt nicht in das, was der Ordoliberalismus als sinnvolle Rahmenbedingungen für die marktwirtschaftliche Entwicklung ansieht.
Auch was die breitere sozialphilosophische Einordnung betrifft, verlässt die Energiewende und die damit verbundene Industriepolitik den tradierten Boden unseres Gesellschaftssystems. Bis dahin dominierte in der zunächst west- und dann gesamtdeutschen Wirtschaftsgeschichte seit den 1950er-Jahren im Allgemeinen eine Politik im Geiste eines kritischen Rationalismus, wie ihn Karl Popper oder Hans Albert vertraten. 122 Ihre Stichworte lauten: „piecemeal engineering“, „trial and error“, Lernen aus Irrtümern in möglichst fehlerfreundlichen Systemen, also insgesamt eine evolutionäre Fortentwicklung des Wissens und seiner gesellschaftlichen Umsetzung. Es ist eine Philosophie, die stark der Aufklärung verpflichtet ist, aber stets die Grenzen des Wissens und die Fehlbarkeit menschlicher Entscheidungen betont. Die Energiewende steht dagegen viel stärker in der Tradition der radikalen Umwälzung, des „großen Sprungs nach vorn“, der von einer vermeintlich höheren Erkenntnis getragen wird. Es geht deshalb um viel mehr als den Streit um einen konkreten Maßnahmenkatalog der Politik. Zur Diskussion steht in gewisser Weise die philosophische Grundlage, auf der Politik in Deutschland überhaupt betrieben wird.
All dies ließe eigentlich erwarten, dass die öffentliche Debatte um die Industriepolitik nach der Energiewende intensiv, lange und tief greifend geführt werden müsste. Denn sie betrifft Grundsätzliches, das weit in die Zukunft reicht, genauso wie die großen Auseinandersetzungen, die über die wirtschaftliche Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er-Jahren und mit dem Aufleben des Marxismus an den deutschen Universitäten in den frühen 1970er-Jahren stattfanden. Dazwischen lagen Phasen, die eher der Lösung pragmatischer Aufgaben gewidmet waren: in den 1960er-Jahren der Auf- und Ausbau eines Instrumentariums der konjunkturellen Globalsteuerung und der infrastrukturellen Gemeinschaftsaufgaben, in den späteren 1970er- und den 1980er-Jahren die Anpassung an gestiegene Energiepreise, in den 1990er- und 2000er-Jahren der Aufbau Ost und die Reformagenda, die sich im Zuge der Globalisierung eröffnete. Erst heute geht es wirklich wieder um eine ordnungspolitische Grundfrage ersten Ranges. Es ist deshalb merkwürdig, dass die öffentliche Diskussion über die Industriepolitik nach der Energiewende bisher eine so bescheidene Rolle spielt. Offenbar gibt es längst eine Art schleichenden Konsens, der diese Politik trägt – ohne Rückfragen, was deren tiefere Grundlage betrifft.
Es ist nicht leicht zu erklären, warum dies so ist. Mit Blick auf die Kernkraft spielt sicherlich die Katastrophe von Fukushima eine wichtige Rolle – allerdings mehr als letzter Anlass in einem sozialen Klima, das schon lange durch eine überaus kritische Haltung gegenüber der Nukleartechnologie geprägt war. Was die Energiepolitik insgesamt betrifft, kommen möglicherweise mehrere gesellschaftliche Gründe zusammen. Aus ökonomischer Sicht fällt auf, dass die Idee der Energiewende ihren ersten großen Höhepunkt um die Jahrtausendwende erreichte, als es überhaupt keine wirklich spürbaren Knappheiten an Kapital und Arbeit sowie Innovationskraft gab. Die
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