Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
würde. Was ist aber in einer solchen Situation die richtige Strategie für die Energiepolitik? In Deutschland lautet darauf häufig die Antwort, dass gerade die Fortdauer der Unsicherheit eine Energiewende verlangt. Denn es könne ja, wenn es dann nicht so schlimm kommt, nicht falsch gewesen sein, im Rahmen einer klugen Strategie der Vorsicht schon einmal das Nötige getan zu haben, um das Schlimmste zu verhindern. Man schließt eben eine Art Versicherung ab, um für alles gewappnet zu sein, und man ist gesellschaftlich bereit, eine gewisse Prämie für diese Versicherung zu zahlen. 121
So weit die typische Argumentation. In der Tat ist „kluge Vorsicht“ als grundsätzliche politische Richtschnur kaum zu beanstanden. Tatsächlich spricht vieles dafür, sie in weiten Bereichen der Politik unter Unsicherheit zur grundsätzlichen Leitlinie zu erheben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob ausgerechnet der deutsche Weg der Energiewende einer solchen Politik der klugen Vorsicht entspricht. Denn prima facie bedeutet diese, dass man sich Optionen offenhält und es vermeidet, sich endgültig und unwiderruflich festzulegen. Dies gilt insbesondere in der Technologie- und Industriepolitik, die Pfadabhängigkeiten schafft und spätere Notausgänge erschwert. Die Problematik der Situation lässt sich am einfachsten verdeutlichen, wenn man um des Argumentes willen einmal unterstellt, die Astrophysiker hätten mit ihrer Abkühlungsthese durch Abnahme der Solaraktivität recht; es würde also, sagen wir, um das Jahr 2030 immer deutlicher, dass es im 21. Jahrhundert auch ohne besondere Anstrengungen möglich ist, die globale Erwärmung auf zwei Grad oder gar noch weniger zu beschränken. Wie steht dann die heutige Energiewende in Deutschland als Vorsichtsstrategie da?
Die Antwort lautet: sehr schlecht. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ist Deutschland zu diesem Zeitpunkt, was die energiepolitische Struktur betrifft, längst festgelegt. Eine Rückkehr zu anderen technologischen Schwerpunkten ist schwierig: Die Kernkraftwerke sind abgeschaltet und sogar schon demontiert, die technische Weiterentwicklung der Kohle- und Gaskraftwerke ist ad acta gelegt, die riesige Infrastruktur für erneuerbare Energien errichtet oder im fortgeschrittenen Planungsprozess. Eine Rückkehr zu fossilen Energiequellen, wollte man sie versuchen, würde heißen: massive Abschreibung eines mit Mühe und hohen Kosten aufgebauten Kapitalbestands. Wichtiger noch: Sie würde an dem Mangel an Forschungskapazität und Fachpersonal scheitern. Infrage käme letztlich nur der komplette Import der Technologie. Kurzum: Gerade die starke Festlegung der Forschung auf einen einzigen Weg führt zu einem „locking-in“. Je nach der Preisentwicklung der verschiedenen Energieformen kann dies sehr weitreichende wirtschaftliche Folgen haben.
Ökonomisch wichtiger ist aber noch ein zweiter Effekt: Deutschland verliert in einer solchen Situation seine Rolle als Vorbild und Vorreiter. Andere Länder, die sich eben nicht so früh festlegen – und das sind wahrscheinlich große Teile der Welt –, werden energiepolitisch ganz andere Wege gehen. Der erhoffte Vorsprung in der Avantgarde-Technologie kommt nicht zustande. Im Gegenteil, Deutschland bleibt energiepolitisch relativ isoliert, und die erwarteten Wachstumspotenziale für gute Auslandsgeschäfte verflüchtigen sich. Kurzum: eine miserable Bilanz eines technologie- und industriepolitischen Großexperiments. Das ähnelt dann doch dem Fiasko der Planwirtschaft zu früheren Zeiten, als die Planer der sozialistischen Politbürokratie bestimmte Branchen zur massiven staatlichen Förderung auswählten und in der Folge völlig am Weltmarkt vorbeiforschten und -produzierten. Als extremes Beispiel mag die sowjetische Raketentechnologie der 60er-Jahre dienen: Sie war im weltweiten Maßstab alles andere als schlecht, half aber dem Land nicht, sich in der Breite weiterzuentwickeln.
Natürlich ist dies ein Negativszenario, das nicht eintreten muss. Aber es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, um die vermeintlich kluge Vorsichtsstrategie als das zu entlarven, was sie ist: eine gezielte Risikostrategie. Denn sie setzt gerade nicht auf ein breites Portfolio von Optionen, das sich Deutschland mit seinem hohen technischen Standard in der Energieversorgung bewahren könnte. Sie setzt stattdessen auf eine einzige Option, die erfolgreich sein kann, aber nicht sein muss. Dies hat eher den
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