Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
jede wichtige politische Entscheidung hatte fortan drei Grundbedingungen zu erfüllen: Sie musste schnell sein; sie musste Vertrauen schaffen; und sie musste Löhne in Aussicht stellen, die nicht allzu weit unter dem westdeutschen Niveau liegen. Nur so lassen sich die drei großen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen verstehen, die das Jahr 1990 mit sich brachte: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einrichtung der Treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Wirtschaftsförderung. Die Geschichte dieser Weichenstellungen ist an Dramatik kaum zu überbieten, denn es waren politische Kraftakte von bisher historisch einmaliger Dimension. 141 Die Dramatik ergab sich vor allem aus dem Ausmaß des Zusammenbruchs der industriellen Produktion, den der Osten Deutschlands im Übergang zur Marktwirtschaft erlebte: Eine ehemals stolze Industrieregion durchlief eine fast komplette Deindustrialisierung, und was danach folgte, war ein überaus schwieriger und langwieriger Versuch, im Osten Deutschlands wieder ein verarbeitendes Gewerbe entstehen zu lassen, das hinreichend modern und wettbewerbsfähig ist, um in einer globalisierten Welt bestehen zu können.
Tatsächlich startete der Aufbau Ost mit einem Bauboom. In seinen Ausmaßen erwies er sich als übersteigert. Ergebnis waren zum Teil hohe Leerstände im städtischen Baubestand und ein frühes Platzen einer Immobilienblase, aber daneben eben doch auch eine nachhaltige Modernisierung der Infrastruktur und des Baubestands. Danach erst folgte ein kontinuierliches Wachstum der industriellen Wertschöpfung, das bis zur Weltfinanzkrise anhielt und seit einigen Jahren sogar wieder die Beschäftigung ein Stück weit nach oben zog. Die Ergebnisse sind heute in der Statistik ablesbar: Wurden 1992 noch gerade mal 3,5 Prozent der gesamtdeutschen Industrieproduktion im Osten erstellt, so beträgt seit 2008 der Anteil wieder rund zehn Prozent. Während die Bauwirtschaft seit Mitte der 1990er-Jahre schrumpfte, gewann das verarbeitende Gewerbe wieder einen prominenten Platz. Auch in der wirtschaftlichen Leistungskraft gab es deutliche Fortschritte. Ein ostdeutscher Industriebeschäftigter erwirtschaftet heute pro Jahr fast 80 Prozent der Wertschöpfung seines westdeutschen Kollegen; 1991 waren es weniger als ein Viertel, um die Jahrtausendwende etwa zwei Drittel. Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief der Zuwachs der Produktivität im letzten Jahrzehnt schleppend, nach anfänglich rasantem Tempo. Dies lag aber vor allem an der Schrumpfung der Bauwirtschaft, der Stagnation der Dienstleistungsgewerbe und dem Rückgang staatlicher Aktivität. Dabei handelt es sich um notwendige Anpassungen: Nur durch einen Strukturwandel weg von der binnenmarktorientierten Produktion von Bauleistungen und Diensten hin zum exportfähigen verarbeitenden Gewerbe kann der Osten aus seiner Transferabhängigkeit herauswachsen. Der Motor des Wachstums musste die weltmarktorientierte Industrie sein. 142
Die Folgen dieser Entwicklungen zeigen sich seit einigen Jahren auch sehr deutlich in dem, was man die gesamtwirtschaftliche „Leistungsbilanz“ Ostdeutschlands nennen könnte, also die Differenz zwischen dem Wert der Produktion und des Verbrauchs. 143 Diese „Leistungsbilanz“ wies in den 1990er-Jahren riesige Defizite auf, und zwar jährlich in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro. Im Jahr 2008 betrug das Defizit noch etwa 27 Milliarden Euro. Dieser nachhaltige Fortschritt erklärt sich in erster Linie aus der kräftigen Zunahme der industriellen Produktion, aber auch aus der Konsolidierung der öffentlichen (und privaten) Ausgaben in den ostdeutschen Ländern. Was an Defizit derzeit noch übrig bleibt, resultiert aus den West-Ost-Transfers innerhalb des Renten- und Sozialsystems, die auf Rechtsansprüchen beruhen.
An dieser Stelle lohnt es sich, kurz innezuhalten. Denn die beschriebene Anpassung – von der Binnenmarkt- zur Weltmarktorientierung – ist exakt das, was heute von der südlichen Peripherie Europas unter großen Schmerzen der Anpassung vollzogen wird. Tatsächlich kann man den Binnenmarktboom der Bauwirtschaft im Ostdeutschland der 1990er-Jahre wirtschaftlich sehr gut vergleichen mit der Blase in der südlichen Peripherie ein Jahrzehnt später. Der einzige Unterschied liegt in der politischen Motivation: Die Blase Ostdeutschlands diente dem physischen Aufbau Ost und war damit notwendiges Instrument, um eine Generation von mobilen Menschen von der Wanderung in den Westen abzuhalten. Der
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