Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Boom in Südeuropa dagegen ergab sich aus einer weltwirtschaftlichen Konstellation mit sehr niedrigen Realzinsen, die einen wirtschaftlich motivierten, also freiwilligen Zustrom an Kapital veranlassten. Beide Boomphasen mussten zu einem Ende kommen, beide waren nicht nachhaltig. Während die südliche Peripherie noch mitten in der schwierigen Anpassung steckt, ist sie in Ostdeutschland dagegen weitgehend abgeschlossen.
Was ist das Ergebnis des Aufbaus Ost? Bei allen Fortschritten der Industrie verbleibt ein zählebiges innerdeutsches Produktivitätsgefälle. 144 Seit dem Jahr 2008 beträgt die Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen fast 80 Prozent des Westens; pro Arbeitsstunde sind es noch weniger als 75 Prozent, da die Arbeitszeit in der ostdeutschen Industrie deutlich höher liegt als im Westen. Wie lässt sich dieser Rückstand erklären? Alle Indizien sprechen dafür, dass der Hauptgrund in der Art der Produkte liegt, die im Osten hergestellt werden. Diese haben offenbar Charakteristika, die im Durchschnitt eine niedrigere Wertschöpfung pro Arbeitseinsatz erzielen als ihre westlichen Gegenstücke. Vor allem bleibt die industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) immer noch sehr stark auf den Westen Deutschlands konzentriert ( Schaubild 23 ): Sowohl die Relation F&E-Ausgaben zu Wertschöpfung als auch der Anteil des Personals, das in F&E tätig ist, lag im Osten im Jahr 2009 noch deutlich unter den entsprechenden Anteilen im Westen, nämlich etwa bei der Hälfte. Auch die Exportausrichtung ist in Ostdeutschland noch immer schwächer als im Westen, wenngleich sich der Abstand in den letzten Jahren deutlich verringert hat. In jüngster Zeit lag die Exportquote im Westen bei etwa 40 Prozent, im Osten bei 25 Prozent, nach nur zehn Prozent noch Mitte der 1990er-Jahre. Schließlich arbeitet die ostdeutsche Industrie im Durchschnitt mit deutlich kleineren Betriebsgrößen als die westdeutsche Industrie. Es ist deshalb für sie auch schwieriger, die nötige innovative Schlagkraft in der Forschung und im Export zu entwickeln.
All dies führt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Die ostdeutsche Industrie ist noch immer zu einem beträchtlichen Teil eine verlängerte Werkbank des Westens. Die Direktinvestitionen westlicher Firmen haben viel gebracht an Modernität und Effizienz, aber wenig an Brutstätten des Wissens und industrieller Innovationskraft. Obendrein ist die ostdeutsche Industrie noch nicht groß genug, um den Produktivitäts- und Einkommensabstand zum Westen auch in den Bereichen lokaler Dienstleistungen deutlich zu verringern. Kurzum: Sie hat Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Dabei bedeutet die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Industrie keineswegs einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings liegt dies vor allem an einem Lohnniveau, das seit über zehn Jahren bei etwa zwei Drittel des Westniveaus verharrt. Entsprechend sind die Lohnstückkosten, definiert als das Verhältnis von Arbeitskosten zu Arbeitsproduktivität, relativ zum Westen kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2010 lagen sie im verarbeitenden Gewerbe bei 88 Prozent des Westniveaus. Industriell ist also der Osten – was die Lohnstückkosten betrifft – ein wettbewerbsfähiger Standort geworden, trotz des fortdauernden Rückstands der Produktivität. 145 Genau dies war eben auch Teil der Anpassung vom Binnen- zum Weltmarkt, die der südlichen Peripherie Europas noch zum Großteil bevorsteht.
Alles in allem ergibt sich also wirtschaftlich ein überaus ambivalentes Bild der Deutschen Einheit. Der Kraftakt des Aufbaus Ost war in dem Sinne erfolgreich, dass der Osten heute durchaus wieder über eine wettbewerbsfähige Industrie verfügt, die im Wesentlichen für eine Stabilisierung der Region sorgt – auch mit Blick auf deren Wanderungsbilanz. Gleichwohl ist offensichtlich, dass durch Deutschland qualitativ dieselbe Kluft der Wirtschaftskraft geht, die wir zwischen dem westlichen Zentrum Europas auf der einen Seite und dem Süden und Osten auf der anderen beobachten. In gewisser Weise gehört Ostdeutschland auch heute noch nicht zu diesem westlichen Zentrum, das in der Zukunft wie ein Magnet Arbeitskräfte aus dem Süden und Osten anzuziehen droht. Im Gegenteil, es könnte selbst im Zuge der weiteren Entwicklung auszubluten drohen: Zwar ist die Arbeitslosigkeit Ostdeutschlands durch die Reindustrialisierung der letzten Jahre im innereuropäischen Vergleich nicht mehr besonders hoch, doch könnte eine neue
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