Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
reichlich Dellen hat und das man als bekennender Schwabe trotzdem nicht wegwirft, solange es zu reparieren ist. Bei jedem Termin forderte ich mehr Engagement, Emotion und positives Auftreten in der Öffentlichkeit, doch die Resonanz blieb bescheiden. 2005 war ein schwieriges Jahr gewesen, 2009 empfand ich nur noch als niederschmetternd. Nicht mal in der heißen Phase des Wahlkampfs schafften wir es, unsere Leute zu mobilisieren. Viele waren entmutigt von den schlechten Umfrageprognosen und hatten einfach aufgegeben.
Am 6. September saß ich in der Talkshow bei Anne Will und wurde befragt zu einem Thema, das wie für mich geschaffen war: »Abstiegsangst in Deutschland – Wer sorgt jetzt für soziale Sicherheit?« Ich wetterte gegen habgierige Manager wie den ehemaligen Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick, der es geschafft hatte, nach nur einem halben Jahr als Vorstandsvorsitzender zurückzutreten und dafür 15 Millionen Euro zu kassieren, weil sein ursprünglicher Arbeitsvertrag über fünf Jahre laufen sollte. Im Studio saß mit Otto Fricke ein FDP-Politiker, der ungestraft gegen den Mindestlohn argumentieren durfte. Mit hochrotem Kopf und natürlich auch mit stark angeschwollener Halsschlagader setzte ich mich über alle Regeln des Fernsehtalks hinweg und brüllte diesen frisch gefönten Vorsitzenden des Haushaltsausschusses imBundestag an: »Ein Unternehmen geht nicht kaputt durch Löhne und Gehälter!« Ein paar Minuten später entschuldigte ich mich. Ich stand auf, ging zu Fricke rüber, um ihm die Hand zu geben. Auch bei Anne Will, der ich die Hoheit der Gesprächsführung zwischenzeitlich abgenommen hatte, bat ich um Nachsicht. Ich war in meinem Element: kämpfen, reden, überzeugen und auf keinen Fall aufgeben, auch wenn Frau Künast und die anderen Gäste schon Mitleid mit der SPD erkennen ließen. Am nächsten Tag bescheinigte mir die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Medienseite, das TV-Duell mit der versammelten Opposition bravourös gemeistert zu haben. Ich hätte Gespür bewiesen für die ganz große Polit-Inszenierung und mit etwas Ironie empfahl mir der Autor dieser Fernsehkritik, den Kanzlerjob zu übernehmen, vielleicht sogar den des Bundespräsidenten. Am besten gefiel mir, dass mir während der Sendung die »Herzfrequenz eines Kolibris« attestiert wurde. Das Bild kam meinem tatsächlichen Zustand verblüffend nahe. Ich war ein begeisterter Wahlkämpfer, der bis zum Schluss an einen Erfolg glaubte, doch es gelang mir nicht überall, eine Auf bruchsstimmung zu erzeugen. Die SPD steckte in ihrer tiefsten Krise der Nachkriegszeit, doch solange Wahlkampf herrschte, wurden diese düsteren Visionen, die sich bis dahin ja nur auf Umfragen stützten, in den Hintergrund geschoben, wenn nicht sogar verdrängt. Der Wahlabend am 27. September 2009 bescherte mir eine geradezu brutale Ernüchterung, die ich selbst nach dem Desaster bei den Europawahlen drei Monate zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Unter Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hatte die SPD ein historisches Tief erreicht: 23 Prozent! Aus allen anderen Parteizentralen in Berlin waren Jubelschreie zu hören, denn FDP, Linke und Grüne feierten Rekordergebnisse. Die CDU beklagte ihr schlechtestesErgebnis seit 60 Jahren, doch die Verluste gingen unter in der Vorfreude auf eine Regierungsbildung mit den Liberalen. Wir waren der große Verlierer und spätestens in dieser bitteren Stunde hatte ich Gewissheit: Diese SPD war keine Volkspartei mehr. Wir hatten 11,2 Prozent verloren im Vergleich zur Wahl 4 Jahre zuvor und die Statistiker errechneten in schonungsloser Präzision, dass noch keine Partei bei einer Bundestagswahl so hoch verloren hatte. Ich brauchte diese Analysen nicht, um zu realisieren, dass die Arbeitslosen und Geringverdiener bei der Linkspartei eine neue Heimat gefunden hatten. Wir, die Partei mit dem traditionell größten sozialen Profil, hatten einfach versagt. Die nächste Ohrfeige klatschte mir ins Gesicht, als die Ergebnisse in meiner Heimat ausgezählt waren. Die SPD lag im Südwesten Deutschlands nur noch bei mickrigen 19 Prozent. Halten Sie mich nicht für abgehoben und schon gar nicht für arrogant, aber als Betriebsratsvorsitzender habe ich mich im Lauf der Jahre an Wahlergebnisse gewöhnt, die mir nie weniger als 80 Prozent Zustimmung einbrachten. An das neue Image der SPD als bemitleidenswerte Kleinpartei konnte ich mich nicht gewöhnen, dann wollte ich lieber weiterkämpfen! Doch schon die ersten Analysen des Wahldebakels
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