Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
bestärkten mich in meiner Meinung, dass viele meiner Genossinnen und Genossen noch immer nicht begriffen, was wir falsch gemacht hatten. In Brandenburg warb Ministerpräsident Matthias Platzeck für eine Anerkennung der Linkspartei und rief zu mehr Zusammenarbeit mit der neuen »Volkspartei« auf. Platzeck, der zu Hause auf ein rot-rotes Bündnis angewiesen war, um regieren zu können, hätte besser Vorschläge gemacht, wie wir unser eigenes Profil mit sozialen Inhalten schärfen konnten, um uns deutlicher abzugrenzen. Klaus Wowereit in Berlin erklärte immerhin, die verlorenen Wähler von der Linksparteizurückgewinnen zu wollen und er wusste, wo er angreifen musste. Gerade in den sozialen Brennpunkten Berlins, wo besonders viele Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslose zu Hause sind, hatten die Sozialdemokraten überdurchschnittlich viele Stammwähler verloren. Aus allen Bundesländern wurden Wasserstandsmeldungen abgegeben, überall hieß es: »Land unter!« Die SPD war im Herbst 2009 zu einer zwischen »Links« und »Mitte« zerrissenen Partei ohne Visionen geworden und ich fragte mich, ob es reichte, ein paar der Schaltstellen auszuwechseln. Parteichef Franz Müntefering zog sich in sein stark verjüngtes Privatleben zurück und hielt seine Abschiedsrede auf dem Sonderparteitag in Dresden. Nicht einmal sieben Wochen nach dem Debakel wurde endlich zugegeben, dass wir Fehler gemacht hatten. Die vielen Wechsel an der Führungsspitze, die Flügelkämpfe, die nicht enden wollenden Debatten über Hartz IV, die Rente mit 67: hausgemachte Probleme, die die aktuelle Situation der Partei erklärten, nicht aber die Tatsache, dass wir seit 1998 zehn Millionen Wähler verloren hatten! Die SPD kauerte in einer Art Schockzustand im Jammertal und wenn mir vor diesem Freitagnachmittag in Dresden jemand gesagt hätte, dass ausgerechnet Sigmar Gabriel der toten SPD neues Leben einhauchen würde, hätte ich ihn ausgelacht.
Eine Stunde und 45 Minuten lang hielt der neue Parteivorsitzende eine Rede, wie ich sie seit den Tagen von Helmut Schmidt nicht mehr gehört hatte. An einen Satz erinnere ich mich heute noch, er hätte von mir stammen können: »Wir müssen dahin, wo es laut ist, wo es brodelt, wo es manchmal riecht«. Dieser stämmige Niedersachse schaffte es tatsächlich, den Delegierten ihr verloren geglaubtes Selbstwertgefühl wiederzugeben. Begriffe wie »Freiheit« und »solidarische Gesellschaft« waren plötzlich wieder zu hören. Gabrielwetterte gegen den »neoliberalen Zeitgeist«, dem sich auch die SPD angepasst habe, indem sie mitgeholfen habe, die Märkte zu deregulieren. Er schwärmte von einer Partei, die nicht hinnahm, wie man leben musste. Er forderte eine selbstbewusste SPD, die gestaltete, wie man leben wollte, ohne auf die politische Mitte und deren Ableger rechts und links davon Rücksicht zu nehmen. Auch das chinesische Sprichwort, das er nach fast zwei Stunden als Schlussbotschaft an all die Genossinnen und Genossen richtete, denen der Wahlausgang immer noch ins Gesicht geschrieben stand, gefiel mir: »Wer nicht lächeln kann, der soll keinen Laden aufmachen«. Als Bundesumweltminister war mir Sigmar Gabriel nie sonderlich aufgefallen, als Parteivorsitzender hatte er mich gepackt und überzeugt. Diese Mischung aus Demut, Kampf kraft, Intellekt und der Gabe, ein begnadeter Redner zu sein: Genau das hatte der SPD in den vergangenen Jahren gefehlt!
Zu Hause in Baden-Württemberg tat sich meine Partei weiter schwer, denn das alles überragende Thema »Stuttgart 21« entwickelte sich zum großen Streitpunkt zwischen CDU und Grünen; der SPD kam dabei nur eine Nebenrolle zu. Mir persönlich wurden die Debatten vom ersten Tag an mit zu viel Emotionalität geführt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich der Bürger beim Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs nur zwischen Jahrhundertchance und Millionengrab entscheiden konnte. Mir kamen in der sehr erbitterten Diskussion immer die Zukunftsperspektiven zu kurz, die Stuttgart und vor allem die kommenden Generationen durch den Neubau erhalten würden. Ich setzte auf Fortschritt und Wachstumschancen und bekannte mich zu Stuttgart 21, womit ich mir allerdings nicht nur Freunde machte.
2010 wurde ein turbulentes Jahr im Ländle: Günther Oettinger trat als Ministerpräsident zurück, weil er den ruhigerenPosten eines EU-Kommissars vorzog und Stefan Mappus wurde am 10. Februar zu seinem Nachfolger gewählt. Mappus kannte ich schon längere Zeit, schließlich kommt er aus
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