Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
worden, dass ein paar Fenster und Türen schief eingebaut waren, zum Beispiel Hartz IV. Um die Schwächsten der Gesellschaft, denen das soziale Netz weggenommen worden war, zu retten, mussten wir über eine Umverteilung von oben nach unten nachdenken. Ich propagierte keinen Sozialismus oder Kommunismus, wie mir gerne unterstellt wurde, ich forderte Solidarität! Solidarität hat nichts mit Sozialismus zu tun. Wir lebten in einem der reichsten Länder der Welt, in dem Milliardenumsätze mit Aktien gemacht wurden, doch kein Cent davon floss in die Sozialkassen. Ich forderte eine Börsenumsatzsteuer, damit das Kapital zur sozialen Gerechtigkeit beitragen konnte und hatte damit eine unerwartet positive Resonanz in den Medien. Robin Hood war wieder da! Ich forderte die Partei zur Umkehr auf, aber ich stieß überwiegend auf Lethargie und Mutlosigkeit. Manchmal glaube ich, auch Andrea Nahles und Sigmar Gabriel hatten die Wahlen schon abgeschrieben – für mich undenkbar! Ich forderte meine Genossen zu mehr Ehrlichkeit auf, sich die gemachten Fehler einzugestehen. Hartz IV erwies sich doch als nicht mehr tragbar! In einem Interviewmit dem Focus , das in der Parteizentrale kleinere Turbulenzen auslöste, wurde ich deutlich: »Wenn Menschen, die 30 Jahre lang gearbeitet haben, nach einem Jahr in der Arbeitslosigkeit auf dasselbe Niveau fallen wie jene, die ein Jahr lang gearbeitet haben, dann ist das unfair. Das funktioniert auf Dauer nicht. Die Menschen haben einen Gerechtigkeitssinn, das vergessen die Politiker manchmal. Und wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es Unrecht ist, dann machen sie nicht mehr mit.«
Auch als es um die Rente mit 67 ging, war ich nicht bereit, Rücksicht auf meine Partei nehmen, nur weil es aus wahltaktischer Perspektive heraus vielleicht ratsamer gewesen wäre. Kalkül und Hück passen nicht gut zueinander. Ich kam in Fahrt gegen die vielen sozialen Ungerechtigkeiten, die ich im täglichen Umgang mit Menschen aus unserer Belegschaft erfahren muss: »Wir haben Leuten, die auf einem 10-Meter-Turm im Schwimmbad stehen, gesagt: ›Springt runter!‹ – obwohl gar kein Wasser im Becken ist. Da kann ich jetzt nicht stur darauf beharren, dass das jetzt so beschlossen ist und dass die Leute trotzdem springen sollen. Da muss erst mal Wasser ins Becken. Soll heißen: Es müssen die Voraussetzungen geschaffen sein, damit die Leute länger arbeiten können. Da stehen die Unternehmen in der Pflicht, zum Beispiel durch altersgerechte Arbeitsplätze und Arbeitszeiten. Außerdem dürfen die Menschen durch Leistungsverdichtung nicht so ausgebrannt werden. Solange es diese Voraussetzungen nicht gibt, darf es keine Rente mit 67 geben, denn das bedeutet nur höhere Rentenabschläge. Die SPD hat das falsch eingeschätzt, das müssen wir uns einfach eingestehen.«
Wo immer ich in diesem Wahlkampf danach auftrat, erhielt ich Zustimmung für meine offenen Worte, die manchem Wahlkampfstrategen allerdings zu kritisch ausfielen.Für mich aber war die Basis entscheidend. Zuerst kommt der Mensch, dann das parteipolitische Kalkül. In Bammental bei der SPD Rhein-Neckar legte ich nach, immer von der Hoffnung getrieben, dass sich diese Partei vielleicht doch noch aufrütteln ließ. Das Motto des Abends lautete »Anpacken für die Arbeit von morgen«, aber zuerst wollte ich auch hier an der Basis für die Korrekturen bei Hartz IV werben. Danach ließ ich ein Plädoyer für die in 146 Jahren erkämpften sozialen Errungenschaften der Sozialdemokratie folgen. Voller Leidenschaft plädierte ich für die Schaffung von flächendeckenden Mindestlöhnen, die Erhaltung des Kündigungsschutzes und gleiche Bildungschancen für alle. Die angebliche bürgerliche Mitte gefährdete den sozialen Frieden in unserem Land und allein schon bei dem Gedanken an die selbstverliebte Präsentation der FDP in diesem Wahlkampf schwoll mir die Halsschlagader. Die Kanzlerin hüllte sich bei den meisten Problemen derart hartnäckig in Schweigen, dass ich mich manchmal fragte, ob sie nicht doch die leibliche Tochter ihres Ziehvaters Helmut Kohl war.
Die Finanzkrise nahm zu dieser Zeit schon deutliche Konturen an und ich fragte öffentlich, ob denn nicht die Anbiederung der FDP an den Finanzkapitalismus und ihre neoliberale Ideologie erst das Gespenst der Krise herbeigerufen hat. Sie versprachen Steuerentlastungen und meinten in Wahrheit Eingriffe in den Sozialstaat, um ihre fiebrigen Wahnvorstellungen finanzieren zu können. Wenn die Politiker, die
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