Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
dran.
Lev macht es nichts aus, die Sonntage im Gespräch mit Jungs zu verbringen, vor denen er früher Angst gehabt hätte.
»Hey, Kumpel«, flüstert der tätowierte Punk, beugt sich über den Tisch im Besucherzimmer und wirft dabei ein paar Puzzleteile zu Boden. »Erzähl mal: Wie war es im Ernte-Camp?«
Lev sieht über sich eine Überwachungskamera, die auf ihren Tisch gerichtet ist. Es ist für jeden Tisch, für jedes Gespräch eine da. Insofern ist es hier gar nicht so viel anders als im Ernte-Camp.
»Wie schon gesagt, ich darf nicht darüber reden«, antwortet Lev. »Aber glaub mir, du bleibst besser sauber, bis du siebzehn bist. Du willst es schließlich nicht am eigenen Leib erfahren.«
»Schon kapiert.« Der Punk nickt. »Sauber bleiben bis siebzehn – das ist die Devise.« Und er lehnt sich zurück und mustert sein Gegenüber mit einer Bewunderung, die in Levs Augen völlig unverdient ist. Als die Besuchszeit zu Ende ist, geht Lev mit seinem früheren Pastor nach Hause.
»Erfolg gehabt?«, fragt Dan.
»Kann ich nicht sagen. Vielleicht.«
»Vielleicht ist besser als gar nichts. Gute Arbeit für einen Methonudisten.«
Mitten in Cleveland verläuft am Ufer des Eriesees ein Joggingpfad. Er führt um das Forschungszentrum Great Lakes herum und folgt der Rock and Roll Hall of Fame, in der die Erinnerungen an wildere und coolere Rebellen als Lev bewahrt werden. Wenn Lev sonntagnachmittags dort entlangläuft, fragt er sich, wie es wohl ist, wenn man berühmt-berüchtigt ist, aber nicht gehasst, sondern verehrt wird, nicht bemitleidet, sondern bewundert. Bei dem Gedanken, was für ein Ausstellungsstück wohl an ihn erinnern würde, schüttelt es ihn, und er hofft, dass er es nie erfahren wird.
Für Februar ist es relativ mild, um die sieben Grad plus. An diesem Morgen hat es Regen gegeben statt Schnee, und am Nachmittag nieselt es. Marcus rennt hinter ihm her, atemlos und schnaufend.
»Warum musst du so rasen?«, ruft er Lev nach. »Das ist kein Wettrennen. Außerdem regnet es.«
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Du könntest ausrutschen – an manchen Stellen ist immer noch Schneematsch.«
»Ich sitze doch nicht im Auto.«
Lev platscht durch eine Matschpfütze, spritzt Marcus voll und grinst, als er seinen Bruder hinter sich fluchen hört. Marcus, der sich jahrelang nur von Fastfood ernährt und in der juristischen Fakultät hinter Büchern vergraben hat, ist nicht sonderlich gut in Form.
»Ich schwöre, wenn du mir dauernd davonrennst, laufe ich nicht mehr mit dir. Dann hole ich eben wieder die Geheimpolizisten. Die hängst du nicht so leicht ab.«
Es ist kaum zu glauben, aber es war Marcus’ Idee, dass Lev nach der Überstellung in seine Obhut Sport treibt. In jenen frühen Tagen der Genesung, als sein Blut noch vergiftet war, war es für Lev schon anstrengend, die Treppe in Marcus’ Reihenhaus nach oben zu gehen. Marcus hatte die Vorstellung, dass die Heilung seiner Seele eng mit der seines Körpers zusammenhing. Wochenlang hatte Marcus seinen Bruder immer einen Block weiter getrieben. Und am Anfang wurden sie tatsächlich von FBI-Leuten begleitet, die immer und überall dabei waren, wohl um unter Beweis zu stellen, dass auch der Hausarrest streng durchgezogen wurde. Nach und nach verließen sie sich aber zunehmend auf den Chip in Levs Schulter und erlaubten ihm, auch ohne offizielle Begleitung das Haus zu verlassen, vorausgesetzt, Dan oder Marcus waren bei ihm.
»Wenn ich einen Herzinfarkt bekomme, bist du schuld!«, ruft Marcus von hinten.
Lev war nie ein begeisterter Langstreckenläufer. Früher spielte er am liebsten Baseball, war eher ein Teamplayer. Jetzt ist ihm eine Einzelsportart lieber.
Als der Regen stärker wird, hält er etwa auf der Hälfte der Strecke an und wartet auf Marcus. An einem altmodischen Kiosk vor der Rock and Roll Hall of Fame, an dem es wahrscheinlich noch bis zum Weltuntergang Wasser in Flaschen und Energydrinks geben wird, kaufen sie sich etwas zu trinken.
Marcus ringt nach Luft, trinkt und sagt dann beiläufig: »Du hast gestern einen Brief von Cousin Carl bekommen.«
Lev verkneift sich jede Reaktion, die verraten würde, dass das etwas Besonderes ist. »Wenn er gestern kam, warum erzählst du es mir erst heute?«
»Du weißt doch, wie du Carls Briefe immer aufnimmst.«
»Nein«, erwidert Lev kühl. »Sag mir, wie ich sie aufnehme.«
Aber das braucht Marcus nicht, denn Lev weiß schon, was er meint.
Carls erster Brief war ihm ein völliges Rätsel,
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