Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Mister«, sagt der Junge. »Vielen Dank!« Nelson klettert aus der Röhre und wartet am Ausgang, bis der Junge herauspurzelt, am ganzen Körper ekelhaft verklebt wie ein Baby bei der Geburt. Sobald er ans Tageslicht kommt, geht dem begriffsstutzigen Kerlchen plötzlich ein Licht auf.
»He, Moment mal … Warum haben Sie Lösungsmittel dabei, außer …«
Nelson gibt ihm nicht die Gelegenheit, seinen Gedanken zu Ende zu führen. Er packt den Jungen, dreht ihm den Arm auf den Rücken und fesselt die Handgelenke mit Kabelbindern aus Plastik. Dann stößt er ihn zu Boden und pikst ihn mit dem DNA-Decoder.
»William Yotts«, stellt Nelson fest und der Junge stöhnt. »Seit vier Tagen flüchtig. Keine große Leuchte, wenn’s ums Verstecken geht, was?«
»Nicht festnehmen!«
»Mach ich nicht«, antwortet Nelson. »Du wirst nicht festgenommen, du wirst mitgenommen. Mitgenommen auf die Schwarzmarktauktion. Das bringt Kohle!«
Der Junge wird blass und bekommt hektische rote Flecken auf den Wangen. Nelson überrascht ihn mit einer Spritze. Kein Betäubungsmittel. »Antibiotika«, erklärt er dem Jungen. »Die putzen die Krankheiten aus, die du dir in der Röhre geholt hast. Und die, die du vorher schon gehabt hast, gleich mit. Die meisten jedenfalls.«
»Bitte, Mister, machen Sie das nicht. Bitte …«
Nelson kniet sich hin und sieht ihn sich genau an.
»Ich sag dir was«, lenkt er ein. »Ich mag deine Augen, deshalb schlage ich dir ein Geschäft vor.«
Er schneidet die Fesseln durch und bietet dem Jungen dasselbe Geschäft an wie immer. Die Chance wegzulaufen, während er zählt. Diese EAs kapieren nie, dass das Spiel getürkt ist. Dass Nelson so schnell zählen kann, wie er will, und dass er sehr gut zielen kann.
Der Junge denkt wie alle anderen, dass ausgerechnet ihm die Flucht gelingen wird. Nelson beginnt zu zählen. Der Kleine rennt los, stolpert, rappelt sich wieder auf. Er ist schon fast an der Straße, als Nelson »acht« ruft und mit der Waffe zielt. »Neun.« Er hat die Aufschrift auf der Jacke des Jungen im Visier. »Zehn!« Doch Nelson lässt die Waffe sinken. Statt zu schießen, sieht er zu, wie der Junge über die Straße rennt. Er wird fast von einem Auto erfasst, das gerade noch ausweichen kann, und verschwindet im Wald.
Nelson lobt sich für seine Umsicht. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Jungen niederzustrecken. Aber für diesen hat er andere Pläne. Die Spritze, die er ihm gegeben hat, hat keine Antibiotika enthalten, sondern dem Jungen einen mikroskopisch kleinen Chip eingepflanzt. Mit solchen Trackingnanos hat man früher die letzten Vertreter bedrohter Tierarten überwacht. Es ist bereits der vierte EA, den Nelson seit Beginn seiner neuen Mission mit einem Trackingnano markiert und wieder ausgewildert hat. Mit etwas Glück wird einer von ihnen vom Widerstand aufgegriffen und führt Nelson zu dem Auffanglager für flüchtige Wandler, in dem sich Connor Lassiter eingebunkert hat. Bis dahin kann er noch allen möglichen anderen Spuren folgen. Nelson schmunzelt. Es ist gut, ein Ziel zu haben. Etwas, worauf man sich freuen kann.
31.
Miracolina
Wochenlang lässt Miracolina Gefangenschaft und Entprogrammierung über sich ergehen, ohne nachzugeben. Sie verinnerlicht nicht, was man ihr beibringen will. Natürlich hat sie gelernt, in der kleinen Welt der Ex-Zehntopfer zu funktionieren. Nach außen hin tut sie, was von ihr erwartet wird, damit man sie in Ruhe lässt. Neue Zehntopfer treffen ein, andere werden in Familien untergebracht und erhalten eine neue Identität. Für Miracolina ist so etwas nicht geplant. Obwohl sie halbwegs kooperiert, ist sie ein zu großes Risiko. Allerdings hat niemand eine Ahnung, was sie wirklich vorhat.
Miracolina fühlt sich der Situation durchaus gewachsen. Sie hat nie das behütete Leben der meisten anderen Zehntopfer geführt, und auch wenn sie sich nicht gerade auf der Straße durchschlagen musste, ist sie durchaus praktisch veranlagt. Die Flucht vor der samtenen Faust des Widerstands wird nicht einfach. Aber sie ist machbar.
Schon früh hat Lev persönlich sie gewarnt, dass ein Fluchtversuch sinnlos wäre. »Da draußen ist alles voller Scharfschützen mit Betäubungsgewehren.« Das klang recht hoffnungslos, doch auch die kleinste Information hilft ihr weiter. So hat Lev durchblicken lassen, dass es zwar einen Zaun gibt, dieser aber nicht unter Strom steht. Gut zu wissen.
Sie erkundet jeden Winkel des riesigen Herrenhauses, zu dem sie Zugang hat, und achtet
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