Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
besonders auf die vielen ungenutzten Zimmer und Flure, die für eine Renovierung schon zu verfallen sind. Die meisten Fenster sind mit Brettern vernagelt und alle Türen nach außen verschlossen. Aber je verrotteter eine Tür ist, desto unzuverlässiger ist auch das Schloss – ein Vorhängeschloss ist nur so gut wie das Holz, an dem es hängt. Da ist beispielsweise die Gartentür, die unter einem lästigen Termitenbefall leidet. Miracolina speichert diese Information für die Zukunft ab.
Die Mahlzeiten der Ex-Zehntopfer werden auf lädierten Tellern ausgegeben, die vor langer Zeit zum Service der Familie Cavenaugh gehört haben müssen. Doch an Sonntagen werden die besseren Stücke herausgeholt, so auch silberne Servierplatten, die gerade so unter Miracolinas Hemd passen, wie eine Rüstung. Auch diese Information speichert sie für die Zukunft ab.
Alles, was sie nun noch braucht, ist ein Ablenkungsmanöver – nicht nur im Haus, sondern auch draußen. Da sie das nicht bewerkstelligen kann, wartet sie auf den richtigen Augenblick, zuversichtlich, dass sich eine Gelegenheit ergeben wird. Eine Gelegenheit wie die Tornadowarnung am Sonntagabend.
Schon zum Abendessen frischt der Wind auf. Unter den Jugendlichen ist die Rede von einem aufziehenden Gewitter. Miracolina fällt auf, dass Lev nicht da ist. Vielleicht wurde er vor dem Unwetter an einen sicheren Ort gebracht. Nach dem Essen räumt Miracolina ihren Teller weg. Sie nimmt auch ein paar silberne Servierplatten mit, die sie angeblich in die Küche bringen will.
»Das musst du doch nicht, Miracolina«, sagt eine ihrer Lehrerinnen.
»Ist schon okay, mach ich gern«, erwidert sie mit einem Lächeln. Die Lehrerin lächelt zurück, erleichtert, dass sich Miracolina endlich eingewöhnt.
Das Unwetter entwickelt sich wie jedes Frühjahrsgewitter: Erst kommt der Wind, dann öffnet sich der Himmel und ein Wolkenbruch ergießt sich über das Landhaus. Regen strömt durch die Löcher im Dach in die unrenovierten Räume. Der Tanzsaal, in dem Miracolina an ihrem ersten Tag von Lev begrüßt wurde, steht mindestens zwei Zentimeter unter Wasser. Die Eimer, die in den Zimmern unter die Lecks gestellt werden, laufen rasch voll und müssen geleert werden. Das Haus gleicht einem sinkenden Schiff, das die Besatzung leer pumpen muss. Der Wettersender bringt eine Karte mit den Distrikten in Michigan, auf der die roten Lichter für Tornadowarnungen zornig blinken.
»Keine Sorge«, sagt einer der Lehrer, »wir haben einen Sturmkeller, für den Fall, dass für unsere Gegend eine Tornadowarnung ausgegeben wird.«
Das geschieht genau um 8 Uhr 43.
Sofort beginnen die Mitarbeiter die Jugendlichen zu sammeln. Es blitzt und donnert, und da die Kids aufgeregt sind, ist es nicht leicht, alle im Blick zu behalten. In diesem Tumult schlüpft Miracolina, mit mehreren Servierplatten ausgestattet, in einen Nebengang und rennt zu der termitenzerfressenen Gartentür.
Dort angekommen, schiebt sie sich die größeren Platten vorne und hinten unter das Shirt. Sie sind kalt und unbequem, aber absolut notwendig. Zwei kleinere Teller steckt sie sich in die Sweathose, damit auch ihr Hintern geschützt ist. Sie wartet, bis ein kräftiger Blitz den Himmel mit unregelmäßig zuckenden Lichtern erhellt, und als wenige Sekunden später der Donner ertönt, wirft sie sich mit der Schulter gegen die Tür. Beim zweiten Versuch, während der Donner noch grollt und das Brechen des Holzes übertönt, gibt die Tür nach.
Durch den verwilderten Garten führt ein schmaler Pfad. Miracolina rennt los und ist innerhalb von Sekunden klatschnass bis auf die Haut. Sie sieht kaum etwas, gelangt aber vom Garten in eine von Unkraut überwucherte Lichtung, die in den Wald führt und von den Scharfschützen gut einzusehen ist. Ob Infrarotkameras auch bei so heftigem Regen funktionieren? Metall leitet Strom, und Miracolina fürchtet insgeheim, dass ein Blitz sie treffen könnte. Sie muss einfach fest daran glauben, dass das nicht geschehen wird, muss daran glauben, dass Gott diesen Sturm heraufbeschworen hat, damit sie fliehen und ihrer Bestimmung folgen kann. Und wenn der Blitz sie doch trifft, dann wäre das ja auch ein Zeichen von oben, oder? Sie spricht ein leises Gebet.
»Herr, wenn es falsch ist, was ich tue, dann mach, dass mich der Blitz trifft. Ansonsten mach, dass ich frei bin.«
32.
Lev
Und der Blitz wird tatsächlich geschickt. Er trifft Miracolina nicht, erleuchtet sie aber so hell, dass jeder sie sehen kann.
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