Vollendet (German Edition)
Zorn. Verrat. Wut auf ein Universum, das so getan hat, als sei es fair und gerecht. Aber welchen Grund hatte er wirklich? Welche Rechtfertigung?
»Du magst verantwortlich sein für dein Tun«, sagt Pastor Dan, »aber es ist nicht deine Schuld, dass du emotional nicht auf das Leben in der echten Welt vorbereitet warst. Das ist meine Schuld – und die aller, die dich zum Zehntopfer erzogen haben. Wir sind so schuldig wie die Leute, die dir das Gift ins Blut gepumpt haben.« Beschämt wendet er den Blick ab und kämpft gegen eine aufsteigende Wut an, die sich nicht gegen Lev richtet. Er atmet tief durch und fährt schließlich fort: »Aller Voraussicht nach wirst du ein paar Jahre in Jugendhaft verbringen und dann noch ein paar Jahre unter Hausarrest stehen.«
Lev empfindet keinerlei Erleichterung. Er denkt kurz über den Hausarrest nach. »In wessen Haus?«
Pastor Dan spürt offenbar, was alles in dieser Frage mitschwingt. »Du musst verstehen, Lev, deine Eltern gehören zu den Menschen, die sich nicht leicht an neue, unvorhergesehene Situationen anpassen können.«
»In wessen Haus?«
Pastor Dan seufzt. »Als deine Eltern die Umwandlungsverfügung unterzeichnet haben, wurdest du zu einem Mündel des Staates. Nach den Ereignissen im Ernte-Camp hat der Staat angeboten, die Vormundschaft wieder an deine Eltern zurückzugeben. Sie haben abgelehnt. Es tut mir leid.«
Lev ist nicht überrascht. Er ist entsetzt, aber nicht überrascht. Der Gedanke an seine Eltern spült die alten Gefühle wieder hoch, die ihn so wütend gemacht haben, dass er zum Klatscher wurde. Aber mittlerweile ist seine Verzweiflung nicht mehr bodenlos. »Also heiße ich jetzt mit Nachnamen Ward?«
»Nicht unbedingt. Dein Bruder Marcus bemüht sich um das Sorgerecht. Wenn er es erhält, wirst du in seine Obhut kommen, sobald sie dich gehen lassen. Du wirst immer noch ein Calder sein … wenn du das willst.«
Lev nickt. Ihm fällt sein Zehntopferfest wieder ein. Marcus war der Einzige, der sich für ihn eingesetzt hat. Lev hat das damals nur nicht verstanden. »Mit Marcus wollen meine Eltern auch nichts mehr zu tun haben.« Er wird in guter Gesellschaft sein.
Pastor Dan fährt sich über die Arme. Er zittert ein wenig in der Kälte. Er sieht überhaupt nicht aus wie der alte Pastor Dan. Lev hat ihn noch nie ohne Pastorengewand gesehen. »Warum tragen Sie überhaupt diese Sachen?«
Der Pastor braucht einen Moment, ehe er antwortet. »Ich habe gekündigt. Ich habe die Kirche verlassen.«
Die Vorstellung, dass Pastor Dan nun alles Mögliche ist, nur kein Pastor, bringt Lev aus der Fassung. »Sie … Sie haben Ihren Glauben verloren?«
»Nein, nur meine Überzeugungen. Ich glaube immer noch an Gott – nur nicht an einen Gott, der die menschliche Umwandlung gutheißt.«
In Lev steigt eine Flut an Gefühlen auf, die sich im Verlauf ihres Gesprächs, im Verlauf der letzten Wochen, aufgebaut hat und nun so plötzlich über ihn hereinbricht wie ein Urknall. »Ich wusste gar nicht, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt.«
Sein ganzes Leben lang durfte Lev nur an eine Sache glauben. Sie hat ihn eingehüllt wie ein Kokon, mit denselben weichen, erdrückenden Dämmschichten, die er nun um sich hat. Zum ersten Mal in seinem Leben lockern sich die Bande, die sich um Levs Seele gelegt haben.
»Denken Sie, ich könnte vielleicht auch an diesen Gott glauben?«
69. Wandler
In Westtexas gibt es eine weitläufige Ranch.
Das Geld für den Aufbau der Ranch kam vom Öl, das nun schon lange versiegt ist, wohingegen das Geld blieb und sich vermehrte. Das große Gelände ist eine grüne Oase, es liegt wie ein Golfplatz inmitten der flachen, kargen Prärie. Bis zum Alter von sechzehn Jahren wuchs Harlan Dunfee hier auf und machte jede Menge Ärger. Zweimal wurde er in Odessa wegen ungebührlichen Benehmens verhaftet, doch sein Vater, ein hochdekorierter Admiral, haute ihn beide Male wieder raus. Beim dritten Mal fanden seine Eltern eine andere Lösung.
Heute ist Harlan Dunfees sechsundzwanzigster Geburtstag. Er feiert eine Party. Sozusagen.
Mehrere hundert Gäste sind zu Harlans Feier gekommen. Einer von ihnen ist ein Junge namens Zachary, den seine Freunde Emby nennen. Er lebt schon seit einiger Zeit auf der Ranch, wo er auf seinen großen Tag wartet. Er hat Harlans rechte Lunge. Heute gibt er sie ihm zurück.
Zur gleichen Zeit landet tausend Kilometer westlich eine Großraummaschine auf einem Flugzeugfriedhof. Der Frachtraum ist mit
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