Vollendet (German Edition)
Risa beschließt, es ihm nicht zu sagen. Da es sogar heute noch überall in den Nachrichten kommt, wird er es früh genug erfahren.
Connor erzählt ihr von seinem Koma und seiner neuen Identität. Risa erzählt ihm, dass die Kids das Tor gestürmt haben und geflohen sind und dass nur wenige von ihnen wieder gefasst worden sind. Während sie sich unterhalten, fällt ihr Blick auf die Armschlinge. Die Finger, die herausschauen, sind definitiv nicht Connors. Ihr ist klar, was geschehen ist. Connor wirkt ein wenig verlegen.
»Also, was sagen sie denn?«, fragt er. »Zu deinen Verletzungen, meine ich. Du wirst doch wieder gesund, oder?«
Risa überlegt, wie sie es ihm beibringen soll. Sie will es kurz machen. »Sie sagen, ich bin von der Taille abwärts gelähmt.«
Connor wartet auf mehr, doch mehr hat sie nicht anzubieten. »Na ja … das ist ja aber nicht so schlimm, oder? Das können sie richten – das tun sie doch dauernd.«
»Ja«, sagt Risa. »Sie richten so etwas, indem sie das gebrochene Rückgrat durch die Wirbelsäule eines Wandlers ersetzen. Deshalb habe ich die Operation abgelehnt.«
Er sieht sie ungläubig an und blickt dann auf seinen Arm. »Du hättest dasselbe gemacht, wenn du die Chance dazu gehabt hättest«, fügt sie hinzu. »Ich hatte eine Wahl, und ich habe mich entschieden.«
»Es tut mir leid, Risa.«
»Nicht doch!« Wenn Risa eines nicht brauchen kann, dann Connors Mitleid. »Jetzt können sie mich nicht mehr umwandeln – das Gesetz untersagt die Umwandlung von Jugendlichen mit Behinderung. Wenn ich mich operieren lassen würde, wäre ich dran, sobald ich wieder gesund wäre. Auf die Art bleibe ich ich.« Sie lächelt ihn triumphierend an. »Du bist nicht der Einzige, der das System besiegt hat!«
Er lächelt zurück. Als er die einbandagierte Schulter hochzieht, verrutscht die Schlinge, und es wird ein Stückchen vom neuen Arm darunter sichtbar – genug, um eine Tätowierung zu erkennen. Connor versucht sie zu verbergen, aber es ist zu spät. Sie hat sie schon gesehen. Sie weiß Bescheid. Als sich ihre Blicke begegnen, sieht er verlegen weg.
»Connor …?«
»Ich verspreche … ich verspreche, ich werde dich mit dieser Hand nie anfassen«, sagt er.
Risa spürt, dass es für beide ein entscheidender Moment ist. Dies ist der Arm, der Risa in der Toilette des Lagerhauses gegen die Wand gedrückt hat. Wie kann sie ihn jemals ansehen, ohne Ekel zu verspüren? Dies sind die Finger, die ihr Unaussprechliches antun wollten. Wie könnten sie in ihr je etwas anderes auslösen als Abscheu? Aber als sie Connor ins Gesicht sieht, verblassen diese Gefühle. Nur er ist noch da.
»Lass ihn mich ansehen.«
Da Connor zögert, streckt sie die Hand aus und löst den Arm sanft aus der Schlinge.
»Tut es weh?«
»Ein bisschen.«
Sie fährt mit den Fingern über den Handrücken. »Spürst du das?«
Connor nickt.
Dann führt sie seine Hand behutsam zu ihrem Gesicht und legt die Handfläche auf ihre Wange. Sie hält sie einen Augenblick und lässt sie dann los. Connor fährt ihr mit der Hand über die Wange und wischt mit dem Zeigefinger eine Träne weg. Sanft streichelt er ihren Hals. Sie schließt die Augen. Sie spürt, wie er mit den Fingerspitzen über ihre Lippen fährt, ehe er die Hand wieder zurückzieht. Risa öffnet die Augen, nimmt seine Hand und drückt sie fest.
»Das ist deine Hand«, sagt sie. »Roland hätte mich nie auf diese Weise berührt.« Connor lächelt. Risa betrachtet einen Augenblick den Hai am Handgelenk. Er macht ihr jetzt keine Angst mehr, denn er wurde von der Seele eines Jungen gezähmt. Nein – von der Seele eines Mannes.
68. Lev
Nicht weit weg, im Bundeshochsicherheitsgefängnis, ist Levi Jedediah Calder in einer Zelle untergebracht, die für seine besonderen Bedürfnisse ausgestattet ist. Die Zelle ist schalldicht isoliert und hat eine acht Zentimeter dicke Stahltür. Im Raum herrscht eine Temperatur von 7,5 Grad Celsius, damit Levs Körpertemperatur nicht zu sehr ansteigt. Trotzdem friert Lev nicht – ihm ist sogar warm. Das liegt an den vielen Schichten feuerfesten Isoliermaterials, in die er eingewickelt ist. Er sieht aus wie eine in der Luft hängende Mumie – aber anders als bei einer Mumie sind seine Hände nicht über der Brust verschränkt, sondern zur Seite ausgestreckt und an einen Querbalken gebunden, damit er sie nicht zusammenbringen kann. Lev glaubt, sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie ihn kreuzigen oder mumifizieren sollten,
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