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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Shusterman
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verborgen, doch schon bald wird sie das nicht mehr sein. Und jetzt hat Cy Angst, aber er kann die Sache nicht abbrechen.
    An der Haustür steht ein Polizist und spricht in gedämpftem Ton mit einem Mann und einer Frau mittleren Alters, die auf der Schwelle stehen. Sie sehen Cy nervös an.
    Der Teil in Cy, der nicht Cy ist, kennt das Paar so gut, dass ihn ein Blitz von Gefühlen durchzuckt, der ihn zu versengen droht.
    Auf dem Weg zur Tür scheinen die Steinplatten unter ihm zu schwanken. Das Ehepaar wirkt verängstigt, ja entsetzt. Ein Teil von ihm ist glücklich darüber, ein Teil traurig, und ein Teil wünschte, er wäre weit weg. Aber er weiß nicht mehr, welcher Teil welcher ist.
    Er öffnet den Mund, um zu sprechen und seine Gefühle in Worte zu fassen.
    »Gebt ihn her!«, sagt er. »Gib ihn mir, Mom. Gib ihn mir, Dad.«
    Die Frau hält sich eine Hand vor den Mund und wendet sich ab. Tränen quellen aus ihr heraus wie Wasser aus einem zusammengedrückten Schwamm.
    »Tyler?«, fragt der Mann. »Tyler, bist du das?«
    Zum ersten Mal hat Cyrus für den Teil in ihm einen Namen. Tyler. Ja. Ich bin Cyrus, aber ich bin auch Tyler. Ich bin Cy-Ty.
    »Macht schon!«, sagt Cy-Ty. »Gebt ihn mir – ich brauche ihn!«
    »Was denn, Tyler?«, fragt die Frau unter Tränen. »Was willst du von uns?«
    Cy-Ty will es sagen, bringt aber das Wort nicht heraus. Er sieht nicht einmal das Bild klar vor sich. Es ist ein Gegenstand. Eine Waffe. Zwar will das Bild nicht kommen, dafür aber eine Bewegung. Er stellt sie pantomimisch dar, beugt sich vor, schiebt einen Arm vor den anderen. Er hat etwas Langes in den Händen und stößt damit kräftig nach unten. Und jetzt weiß er auch, dass es keine Waffe ist, die er braucht, sondern ein Werkzeug, denn er gräbt.
    »Spaten!«, sagt er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich brauche den Spaten.«
    Der Mann und die Frau sehen einander an. Als der Polizist neben ihnen nickt, sagt der Mann: »Hinten im Schuppen.«
    Cy-Ty nimmt den kürzesten Weg durchs Haus und geht durch die Hintertür wieder hinaus. Alle anderen folgen ihm: das Ehepaar, die Polizisten, die Dads und der Fry. Cy-Ty geht direkt zum Schuppen, schnappt sich den Spaten – er weiß genau, wo er steht – und geht in eine Ecke des Gartens, in der ein paar Zweige im Boden stecken.
    Sie wurden zu einem schiefen Kreuz zusammengebunden.
    Cy-Ty kennt diesen Winkel genau. Er spürt den Ort tief in sich. Hier hat er seine Haustiere begraben. Er weiß nicht, wie sie hießen, nicht einmal, was für Tiere es waren, aber eins war vermutlich ein Irish Setter. Bilder blitzen auf, Bilder, die zeigen, was mit ihnen passiert ist. Eins hatte eine Begegnung mit einem Rudel Wildhunde, ein anderes eine mit einem Bus. Das dritte war alt. Cy-Ty stellt den Spaten auf den Boden. Nie würde er seine Haustiere stören. Niemals. Er sticht den Spaten zwei Meter hinter den Gräbern in die weiche Erde.
    Mit jeder Schaufel Erde, die er hektisch zur Seite schleudert, keucht er. Dann, in nur etwa einem halben Meter Tiefe, stößt der Spaten mit einem dumpfen Schlag auf einen Gegenstand. Cy lässt sich auf alle viere fallen und schaufelt die Erde mit den Händen weg.
    Als er einen Griff spürt, zieht er daran, bis eine Aktentasche zum Vorschein kommt. Sie ist matschig und durchnässt. Er legt sie auf den Boden, öffnet die Schnallen und klappt sie auf.
    Sobald er den Inhalt sieht, verkrampft sich Cy-Tys gesamtes Hirn. Sein Körper erstarrt. Er kann sich nicht bewegen, kann nicht denken. Was er da vor sich hat, glitzert und funkelt in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen des Abendrots. Angesichts der vielen wunderschönen Stücke ist er bewegungsunfähig. Aber er muss sich bewegen. Er muss es zu Ende bringen.
    Er greift mit beiden Händen in die schmuckgefüllte Aktentasche, lässt die feinen Goldkettchen durch die Hände gleiten, lauscht auf das Klimpern des Edelmetalls. Da sind Diamanten, Rubine, Zirkone, Kunststoff. Das Wertvolle und das Wertlose, wild durcheinandergewürfelt. Wo oder wann er die Stücke gestohlen hat, weiß er nicht mehr, aber er hat es getan. Er hat sie gestohlen, gehortet und versteckt. Hat sie in ein kleines Grab gelegt, hat sie eingebuddelt, um sie wieder auszugraben, wenn er sie braucht. Aber wenn er sie zurückgeben kann, dann, vielleicht …
    Die Hände in den Goldkettchen verschnürt, effektiver, als es die Handschellen am Gürtel der Polizisten tun könnten, stolpert er auf das Ehepaar zu. Kleine Stücke, Ringe und

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