Vollendet (German Edition)
muss, was in Joplin passiert. Jemand muss verstehen, warum du es getan hast. Was immer das sein mag.«
»Jep«, sagt CyFi. »Ich brauch ’nen Zeugen. Genau das ist es.«
»Du bist wie ein Lachs, der gegen den Strom schwimmt«, sagt Lev. »Es steckt in dir drin. Und in mir steckt der Wunsch, dir zu helfen.«
»Lachs.« Cy macht ein nachdenkliches Gesicht. »Hab mal ein Poster mit einem Lachs drauf gesehen. Der ist einen Wasserfall raufgesprungen. Aber oben stand ein Bär, und der Fisch, der ist dem Bären direkt ins Maul geflogen. Drunter stand: ›Auch die längste Reise nimmt manchmal ein übles Ende.‹ Sollte wohl komisch sein.«
»In Joplin ist kein Bär«, erwidert Lev. Er sucht nicht nach weiteren Vergleichen, denn mit seinem scharfen Verstand wird Cy sie sowieso immer nur zum Negativen drehen. Einhundertdreißig IQ-Punkte, die ausschließlich darauf gerichtet sind, den Untergang heraufzubeschwören. Dem hat Lev nichts entgegenzusetzen.
Die Tage vergehen, Kilometer für Kilometer, Ort für Ort, bis sie eines Nachmittags an ein Schild kommen, auf dem steht: Willkommen in Joplin.
30. Cy-Ty
Es gibt keinen Frieden in CyFis Kopf. Der Fry hat ja keine Ahnung, wie schlimm es wirklich ist. Der Fry hat keine Ahnung von den Gefühlen, die über ihn hereinbrechen wie sturmgepeitschte Wellen über einen aufgeweichten Damm. Bald wird der Damm brechen, und wenn es so weit ist, wird Cy ausrasten. Er wird völlig durchdrehen. Sein Verstand wird ihm aus den Ohren quellen und durch die Rinnsteine von Joplin fließen. Er weiß es.
Dann sieht er das Schild. Willkommen in Joplin. Sein Herz gehört noch ihm, aber es hämmert in seiner Brust, droht zu bersten – wäre das nicht großartig? Sie würden ihn ins Krankenhaus bringen, ihm die Pumpe eines anderen einsetzen, und dann müsste er sich mit dem Kerl auch noch herumschlagen.
Der Junge in seinem Kopf spricht nicht in Worten zu ihm, sondern in Gefühlen, in Empfindungen. Er begreift nicht, dass er Teil eines anderen ist. Es ist wie in einem Traum, in dem man Dinge, die man eigentlich wissen müsste, einfach nicht weiß. Dieser Typ weiß, wo er ist, aber er weiß nicht, dass er nicht vollständig hier ist. Er sucht nach etwas in Cyrus’ Kopf, das einfach nicht da ist. Erinnerungen. Verbindungen. Ständig sucht er nach Wörtern, aber Cyrus’ Gehirn kodiert Wörter anders. Deshalb schleudert der Typ seine Wut heraus. Seine Trauer. Wellen, die gegen den Damm krachen, und unterhalb der Brandung verläuft eine Strömung, die Cy immer weiter zieht. Etwas muss passieren. Nur der Junge weiß, was.
»Brauchen wir einen Stadtplan?«, fragt der Fry.
Die Frage bringt Cy auf die Palme. »Ein Stadtplan nützt gar nichts«, sagt er. »Ich muss alles sehen, muss überall hin. Ein Stadtplan ist doch nur ein Fetzen Papier.«
Sie stehen an einer Straßenecke am Stadtrand von Joplin. Als würden sie mit der Wünschelrute nach Wasser suchen. Nichts wirkt vertraut. »Er kennt sich hier nicht aus«, sagt er. »Versuchen wir eine andere Straße.«
Straße für Straße, Kreuzung für Kreuzung, überall ist es dasselbe. Nichts. Joplin ist zwar eine kleine Stadt, aber nicht so klein, dass man jeden Winkel kennen könnte. Dann kommen sie an eine große Straße mit Läden und Restaurants. Es sieht aus wie in jeder anderen Stadt dieser Größe, aber …
»Warte!«
»Was ist?«
»Die Straße kennt er«, sagt Cy. »Da! Der Eisladen. Ich kann das Kürbiseis schmecken. Ich hasse Kürbiseis.«
»Ich wette, er nicht.«
Cyrus nickt. »War seine Lieblingssorte. Was für ein Loser.« Er deutet mit dem Finger auf die Eisdiele und dreht dann den ausgestreckten Arm langsam nach links. »Er kommt aus der Richtung da …«, er lässt seinen Arm nach rechts wandern, »und wenn er wieder herauskommt, geht er nach dort.«
»Okay, gehen wir jetzt dahin, wo er herkommt oder wo er hingeht?«
Cy entscheidet sich für links, doch bald steht er vor der Joplin Highschool, Heimstatt der Eagles. Er sieht einen Degen vor sich und weiß sofort: »Fechten. Der Typ war in der Fechtmannschaft.«
»Degen glänzen«, bemerkt Fry. Cy möchte ihm schon einen bösen Blick zuwerfen, aber Lev hat ins Schwarze getroffen. Genau, Schwerter glänzen. Ob der Junge wohl Schwerter geklaut hat? Ja, wahrscheinlich. Die Schwerter der gegnerischen Mannschaft zu stehlen, ist im Fechten eine alte Tradition.
»Hier lang«, sagt der Fry und übernimmt die Führung. »Er muss von der Schule in die Eisdiele gegangen sein und dann nach
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