Vollendung - Thriller
ihr Sohn verschwunden war, sieben Monate, seit er eines Nachmittags nicht zum Abendessen nach Hause gekommen war – ein kühler, aber ansonsten freundlicher Septembernachmittag, an dem er nach Aussage seiner Freunde noch zum Spielen im Wald um den Blackamore Pond zurückgeblieben war. Und so kam es, dass Laurie, als sie nun auf das kalte Glas Konfitüre in ihrer Hand sah, als ihr klar wurde, dass sie zum ersten Mal seit sieben Monaten unbewusst zum Kühlschrank gegangen war, um ihrem Sohn den Lunch für den nächsten Tag zu machen – Erdnussbutter und Gelee auf selbst gebackenem Brot, um das ihn seiner Aussage nach alle anderen Viertklässler der Eden Park Elementary School beneideten –, mehr empfand als Trauer und die tiefe Einsamkeit, an die sie sich gewöhnt hatte: Die alleinerziehende Mutter eines einzigen Sohns wurde von einem plötzlichen Gefühl der Panik überwältigt, von einer Vorahnung, dass etwas sehr, sehr Schlimmes passiert war.
Sie war wie jeden Sonntag um acht Uhr morgens zu Bett gegangen, nachdem sie, wie schon seit Monaten, die Nachtschicht am Rhode Island Hospital gearbeitet hatte, denn es war die Nachtzeit, die Dunkelheit in ihrer Doppelhaushälfte in Cranston, die sie nicht ertragen konnte. Und bei den seltenen Gelegenheiten, da sie nachts freihatte, verbrachte die hübsche junge Schwester ihre Abende nebenan bei ihrem Vater – allein vor dem Fernseher, bis die Sonne aufging und sie zurück in ihre Wohnung ging und den Tag durchschlief. Sie sei wie ein Vampir, sagte ihr Vater – ein seltener und wirkungsloser Versuch von Humor in einer Welt, die für sie beide düster und humorlos geworden war.
Tatsächlich hatte Laurie trotz ihrer Qualen von Beginn an verstanden, dass das Verschwinden ihres Sohns ihren Vater fast genauso tödlich getroffen hatte wie sie selbst, und während der letzten sieben Monate hatten sich die beiden in den Momenten der jeweils größten Schwäche häufig gegenseitig gestützt. Zunächst war ihr Kummer von der Hoffnung aufgehellt worden, dass man Michael Wenick finden würde, denn das war Rhode Island hier, und Kinder verschwanden nicht einfach in Rhode Island, sie lösten sich nicht spurlos in Luft auf. O ja, Laurie hatte die Statistiken gelesen, hatte unzählige Male mit der Polizei über ihren Sohn gesprochen. Und soweit sie feststellen konnte, gab es nur einen einzigen ungelösten Fall eines verschwundenen Kinds im Bundesstaat – und der war Mitte der Achtzigerjahre passiert.
Doch als sich die Tage dahinschleppten und zu Wochen wurden, als Taucher den Blackamore Pond ein zweites und dann ein drittes Mal abgesucht hatten, als die Freiwilligen ihre Suche einstellten und die Bilder des Jungen nicht mehr so oft in den Nachrichten erschienen, wurden die Statistiken, denen zufolge der kleine Michael bald wohlbehalten zu Laurie und ihrem Vater zurückkehren würde, von der grimmigen Realität des Gegenteils überschattet. Und als sich die Monate auftürmten, als Weihnachten kam und ging, ohne dass es eine Spur von dem Jungen gab, verfielen Laurie und ihr Vater mehr und mehr in einen Zustand tauber Losgelöstheit. Es war, als existierten die beiden in einem Bereich irgendwo zwischen Leben und Tod – zwei Zombies, dachte Laurie, die über die Fähigkeit verfügten, sich selbst zu beobachten, während sie mechanisch ihren täglichen Verrichtungen nachgingen.
Seit Michael Wenicks Geburt waren die drei auf sich gestellt gewesen in dem Doppelhaus an der Lexington Avenue – dem hübschen, zweistöckigen am Fuß des Hügels, keine fünfzig Meter vom Ufer des Blackamore Ponds entfernt. Lauries Eltern hatten sich scheiden lassen, als Laurie im Kindergarten war, aber sie hatte seit ihrem letzten Jahr auf der Highschool nur bei ihrem Vater gelebt – sie war zu ihm gezogen, als ihre Mutter sie hinausgeworfen hatte, weil sie schwanger geworden war. Lauries Freund, Michaels Vater, machte sich aus dem Staub, um bei Verwandten in Florida zu leben, und man hörte nie wieder etwas von ihm – ein Glück, für das John Wenick insgeheim immer dankbar war. Der stämmige ehemalige Vereinsboxer hatte den Freund seiner Tochter nie gemocht – diesen Rap liebenden Versager mit den tief sitzenden, weiten Hosen und dem Nummernschild GNGSTA 1. Tatsächlich hatte sich John Wenick mit einem Baseballschläger auf die Suche nach dem Mistkerl gemacht, als Laurie weinend vor seiner Tür stand – ihr Freund, sagte sie, bestritt, dass das Baby von ihm sei. Ja, John Wenick hätte dem
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