Vollendung - Thriller
schmächtigen Möchtegern-Eminem eins über den Schädel gebraten, wenn er ihn gefunden hätte – wahrscheinlich wäre er wegen Mordes im Gefängnis gelandet. Und erst nachdem er sich beruhigt hatte, erst nachdem der kleine Scheißkerl zwei Tage später nach Florida abgehauen war, fragte sich John Wenick, ob es nicht auch ein Glücksfall gewesen war, dass »Gangsta Number One« sich gerade irgendwo mit seinen Freunden bekifft hatte, als er bei ihm aufgekreuzt war.
John Wenick arbeitete für den Bundesstaat, er war seit über zwanzig Jahren Aufseher bei der Mülldeponie. Und als sein Enkel zur Welt gekommen war, kratzte er genügend Ersparnisse zusammen, um eine Anzahlung auf das Zweifamilienhaus am Fuß des Hügels zu leisten – es war das Haus, in dem er seit seiner Scheidung von Lauries Mutter gewohnt hatte. John Wenick wusste, dass er immer Lauries bevorzugter Elternteil gewesen war, denn zwischen ihm und seiner Tochter gab es ein spezielles Band, das seine alkoholkranke Exfrau nicht verstehen konnte. Und auch wenn Lauries Mutter nach der Scheidung das Sorgerecht erhielt, war ihre Beziehung bestenfalls angespannt gewesen. Und so war es nur natürlich, dass Laurie den Großteil ihrer Zeit bei ihrem Vater verbrachte – zumindest, bis sie anfing, mit Gangsta Number One herumzuhängen. Und deshalb war es ebenfalls nur natürlich, dass sich John Wenick irgendwie für die missliche Lage seiner Tochter verantwortlich fühlte – hätte er nur ein Auge auf sie gehabt, hätte er Gangsta Number One gleich zu Beginn einen Arschtritt gegeben, wäre all das nicht passiert. Darum beschloss John Wenick, seine Tochter für immer bei sich wohnen zu lassen, ja, er war mehr als glücklich, Laurie und den kleinen Michael nebenan unterzubringen, und betrachtete es sogar als seine Pflicht, auf den Jungen aufzupassen, während Laurie ihre Schwesternausbildung machte.
Doch über Verantwortungsgefühl und Verpflichtung hinaus kümmerte sich John Wenick um seinen Enkel, weil er ihn liebte wie sein eigenes Kind. Und seit der kleine Michael fünf Jahre alt war, konnte man die beiden fast jeden Samstagmorgen im Sommer beim Fischen am Ende der kurzen Zufahrt antreffen, die von der Lexington Avenue zu dem bewaldeten Ufer des Blackamore Ponds abzweigte. Ohne Zweifel liebte Michael Wenick das Fischen mehr als alles andere auf der Welt – sogar mehr als das Nintendo Wii, das ihm sein Großvater zum vorherigen Weihnachtsfest gekauft hatte. Und wie begeistert Michael gewesen war, als ihn sein Großvater im Sommer vor seinem Verschwinden zum Fischen auf einem Boot vor der Küste von Block Island mitgenommen hatte! Für den kleinen Michael Wenick war es das Erlebnis seines kurzen Lebens gewesen, für seinen Großvater nur eins der vielen glücklichen Kapitel im Buch des Schicksals, seit seine Tochter vor neun Jahren bei ihm eingezogen war.
Und so war es ein unermesslicher Schock für die Wenicks – für die ganze Gemeinde, für den ganzen Bundesstaat – gewesen, als der kleine Michael Wenick an einem kühlen Septembernachmittag irgendwann zwischen halb fünf und sechs Uhr in den Wäldern um den Blackamore Pond spurlos verschwunden war. Die Wenicks und die Menschen in der Lexington Avenue hätten sich niemals träumen lassen, dass so etwas in ihrer Nachbarschaft geschehen konnte. In ebendem Wald, in dem ihre eigenen Kinder spielten, in dem Wald, in dem sie selbst schon als Kind gespielt hatten. Nein, die Wenicks, die Polizei, die Leute aus Cranston hatten keine Ahnung, dass ein Fremder in ihre Mitte eingedrungen war; sie ahnten nicht, dass der Bildhauer den kleinen Michael Wenick seit Wochen beobachtet hatte – seit er ihn zufällig entdeckt hatte, als der Junge mit zwei seiner Freunde vom Schwimmbad in Cranston nach Hause gegangen war. Der Bildhauer hatte sofort gewusst, dass der schmächtige, für sein Alter ein wenig zu kurze Rumpf des Jungen perfekt für den oberen Teil seines Satyrs sein würde. Und während John und Laurie Wenick es nicht für möglich gehalten hätten, dass ihnen das Schicksal den kleinen Michael bald entreißen würde, hatte der Bildhauer bei seinem Anblick begriffen, dass er und sein Satyr dazu bestimmt gewesen waren, sich an jenem Tag zu begegnen.
Der Bildhauer hatte die Wege seines Satyrs studiert, er war ihm – immer aus der Ferne – nach Hause gefolgt, erst, während des Sommers, vom Schwimmbad aus, dann im Herbst von der Eden Park Elementary School. Er hatte ihn vom gegenüberliegenden Ufer aus beim
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