Vollendung - Thriller
verschiedenen Gelegenheiten in dem Abflussrohr wartete, ehe er Michael Wenick schließlich entführte. Natürlich bestand immer die Gefahr, dass sich der Satyr und seine Gefährten in das Abflussrohr wagten und ihn entdeckten. Und auch wenn er in den Wochen, in denen er die Jungen beobachtet hatte, nie einen von ihnen in die Öffnung der dunklen, feuchten Röhre gehen sah – wahrscheinlich hatten sie diese Angst schon vor Jahren besiegt, dachte er –, war er für alle Fälle mit seinem Nachtsichtgerät und dem Schalldämpfer auf seiner 45er Sig Sauer ausgerüstet. Er wollte die Begleiter des Satyrs nicht töten, doch er hatte sich von Anfang an darauf festgelegt zu tun, was er tun musste, um seinen Satyr zu erwischen. Vor allem würde er, falls er den Satyr selbst töten musste, ehe er ihn zum Kutschhaus schaffen konnte, versuchen, auf den Hinterkopf zu zielen. Ja, wichtiger als das Erwachen des Satyrs war dem Bildhauer, dass sein Material nicht beschädigt wurde.
Abgesehen davon, dachte der Bildhauer, ist es nur das Erwachen des Bacchus , das die Welt erleuchten wird.
Am Ende jedoch war kein Ausweichplan des Bildhauers nötig. Denn als er am letzten der vier aufeinanderfolgenden Nachmittage, an denen er in dem Kanalrohr gewartet hatte, auf seiner Uhr sah, dass es 16.35 Uhr war, und er bis kurz vor die Öffnung des Abflussrohrs kroch, hatte er freie Sicht auf seinen Satyr, der sich nur einige Meter entfernt am Ufer aufhielt. Endlich war er allein – er hatte eine mit Schlamm gefüllte Bierflasche ins Wasser geworfen und versuchte, sie mit Steinen zu zertrümmern, bevor sie in den trüben Tiefen des Blackamore Ponds versank. Und ehe Michael Wenick dazukam, sich zum Klang der Schritte hinter ihm umzudrehen, hatte ihn der Bildhauer geschnappt und zog ihn mit sich zurück in das Abflussrohr.
Der Junge versuchte zu schreien, versuchte, sich gegen den Griff seines Entführers zu wehren, als sich die dunkle Röhre um ihn schloss, aber die fäustlingsgroße Hand auf seinem Mund, der zwingenartige Griff um seinen Hals und Oberkörper waren zu viel für ihn – und zwar in der Weise, dass Michael Wenick, als der Bildhauer den Gully am anderen Ende des Rohrs erreicht hatte, bereits tot war.
Der Bildhauer bemerkte erst, als er Michael Wenick losließ und der Körper des Jungen leblos zu Boden sank, dass er seinem Satyr versehentlich den Hals gebrochen hatte, als er ihn durch das Abflussrohr schleifte; und erst in diesem Augenblick wurde er sich des ganzen Ausmaßes seiner eigenen Kraft bewusst. Und so wie er die 45er nicht bei den Begleitern des Satyrs hatte einsetzen müssen, würden die Nylonschnur und die Flasche Chloroform, die er mitgebracht hatte, nun ebenfalls unnötig sein. Der Bildhauer stopfte die Leiche des Jungen deshalb in eine große Sporttasche und schob den Kanaldeckel zur Seite. Da die Luft rein war, wuchtete er die Tasche auf die Betonplatte und zog sich aus dem Abflussrohr.
In weniger als einer Minute hatte der Bildhauer alles im Wagen verstaut und brauste über den Shirley Boulevard davon. Und auch wenn er ein wenig enttäuscht war, dass sein kleiner Satyr nicht sehen würde, was er für ihn auf Lager hatte, dass er keine Gelegenheit haben würde, vor dem Bildnis aufzuwachen, zu dem er werden würde, fuhr der Bildhauer mit einem leichten Schwindelgefühl nach East Greenwich zurück, weil der erste Teil seines Plans so erfolgreich verlaufen war.
Ja, es war beinahe zu leicht gewesen.
Hätte Laurie Wenick in diesem Augenblick genau gewusst, was ihrem Sohn zugestoßen war, hätte sie gewusst, welcher Schrecken, welche Brutalität dem kleinen Michael an jenem kühlen Septembernachmittag im Kutschhaus des Bildhauers erspart geblieben war, hätte sie wohl kaum Trost empfunden. Stattdessen starrte sie auf das Konfitüreglas in ihrer Hand, und plötzlich war ihr, als stürzte die ganze Qual der letzten sieben Monate über sie herein. Sie begann zu hecheln, zu zittern und hätte das Glas beinahe auf den Boden fallen lassen, bevor sie es mit Mühe auf der Anrichte abstellen konnte.
Etwas war passiert. Etwas stimmte nicht.
Laurie konnte es fühlen.
Sie hatte den Fernseher nicht angestellt, seit sie am Morgen zu Bett gegangen war, sondern ihren Vampirschlaf geschlafen, während die Nachrichten über Tommy Campbell die Runde gemacht hatten. Und deshalb wusste Laurie Wenick nichts davon, dass man die Leiche des Footballstars unten in Watch Hill entdeckt hatte, als sie nun in ihrer Küche stand. Doch selbst
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