Vollendung - Thriller
nicht nur um den Marmor, Sam. Der Michelangelo-Mörder wollte eine fehlerfreie Kopie der Römischen Pietà selbst haben – eine von Gambardelli, genauer gesagt –, und er war bereit, über Marktwert dafür zu bezahlen, obwohl er sie einfach hätte stehlen können. Warum?«
»Weil Geld kein Hindernis für ihn ist. Der einzige Grund, warum er sie nicht selbst direkt bei Gambardelli gekauft hat, ist der, dass man sie nicht zu ihm zurückverfolgen können sollte. Und außerdem wäre es primitiv gewesen, sie einfach zu stehlen – selbstbezogen und unfein –, einer der vielen Aspekte unserer Kultur, die er zu verändern versucht, wie ich vermute.«
»Aber es ist die Römische Pietà, Sam. Wenn wir bei unserer Prämisse bleiben, dass der Michelangelo-Mörder nur deshalb Carrara-Marmor für seinen Bacchus benutzt hat, weil er ihn ursprünglich für etwas anderes verwenden wollte, dann deutet der Diebstahl der Pietà darauf hin, dass die Neuerschaffung dieser Statue und nicht des David das ursprüngliche Ziel des Mörders war.«
»Und der Carrara-Marmor, aus dem diese Statue gefertigt worden war, das Spezifische dieser Form, würde ihm – auf eine fraglos spirituelle, sogar magische Weise helfen, dieselbe Ähnlichkeit, dieselbe Treue in den Proportionen bei seiner Pietà zu erreichen, die wir schon bei seinem Bacchus gesehen haben. Von daher würde es sowohl in Form wie in Substanz auch eine Verbindung zwischen seinem Material – den Menschenleichen, aus denen sein Werk bestand – und dem Material, aus dem Michelangelos Werk besteht, geben.«
»Aber da er den Staub von der Pietà für seinen Bacchus verwendet hat, muss er seine Absichten tatsächlich geändert haben.«
»Ja. Vielleicht ist ihm eine andere, noch intimere Methode eingefallen, wie er seine Opfer mit der Statue verbinden konnte, zu der sie werden sollten. Vielleicht hat er seine ursprüngliche Idee, dass der Zauber im Marmor selbst liege, verworfen. Vielleicht hat er ein tieferes Verständnis des Eingangszitats zu Ihrem Buch gefunden – dass der Zauber nur in der Hand des Bildhauers liegt.«
»Aber Sam, das würde dann bedeuten …«
»Ja«, sagte Markham und schwenkte auf den Highway. »Ich habe mich geirrt, was das Profil dieses Täters angeht. Eine Ahnung davon beschlich mich schon in Quantico, als ich die Informationen über die Plastinationsindustrie durchgegangen bin, aber ich konnte den Finger nicht darauf legen. Der Michelangelo-Mörder bezieht wenig bis gar keinen Gewinn aus dem Akt des Tötens als solchem. Mord ist für ihn nur etwas, das sich nicht vermeiden lässt, ein Mittel zum Zweck, um Material für seine Skulpturen zu beschaffen. Wie wir jedoch bei Gabriel Banford gesehen haben und wie es sicherlich auch bei Tommy Campbell und seinem abgetrennten Penis der Fall war, ist es entscheidend, dass die Opfer des Michelangelo-Mörders, sein Material, von ihrem Schicksal erfahren – damit sie aus ihrem Schlaf erwachen, wenn man so will, damit sie wahrhaft seine Schöpfungen werden. Und ich vermute, dass der Täter jeden etwaigen Gewinn für sich selbst genau daraus bezieht. Sicher, es könnte eine sexuelle Komponente geben, aber sie erwächst wohl eher aus einer intellektuell wie spirituell komplexen Verbindung mit seinen Opfern als aus simpler, niedriger sexueller Befriedigung – der Täter wird diese Verbindung mit jener verwandt empfinden, die Michelangelo mit seinen Schöpfungen hatte. Ich habe von Anfang an vermutet, dass der Michelangelo-Mörder nicht nur einen wie immer gearteten Gewinn für sich selbst anstrebt – sei es sexueller, spiritueller oder sonstiger Art –, sondern ihn immer mehr als einen Täter mit einer Sendung gesehen, das heißt, mit einem bestimmten Ziel. Ich sehe jetzt aber, dass ich einen entscheidenden Fehler in Hinblick auf seine Opfer gemacht habe.«
»Das ist der Grund, warum Sullivan und ihr Team kein Muster feststellen konnten«, sagte Cathy. »Warum sie keine Fälle von ermordeten oder vermissten jungen Männern finden konnten, die in das Schema Banford, Campbell oder Wenick gepasst hätten. Wir haben am falschen Ort gesucht, Sam. Wir haben nur nach Männern gesucht.«
»Ja, Cathy. Menschen sind das Material des Michelangelo-Mörders – Männer und Frauen. Der Täter verehrt sein Material und versteht zugleich, dass einiges davon vergeudet werden muss. Und so, wie ich davon überzeugt bin, dass er die männlichen Exemplare der Gattung für ästhetisch überlegen hält, bin ich jetzt
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