Vollmondfieber: Roman (German Edition)
Vater und ich stattdessen dunkles. Außerdem hatte er ein paar hübsch verschämte Grübchen, ein Erbe unserer verstorbenen Mutter. Aber das, was uns unverkennbar als Geschwister auswies, waren unsere himmelblauen Augen.
»Sieh’s ein, Jess: Ich habe mir schon einen Haufen mehr Schrammen geholt als du, und am nächsten Tag ging es mir immer blendend«, behauptete Tyler. »Du bist nur eine halbe Portion – ein Mädchen eben!«
»Ach ja, klar doch! Weißt du noch, damals, als wir mit Danny in den Bergen waren? Dich musste man auf einer Trage wegschleppen! Du warst damals ganze drei Tage ausgeschaltet.«
»Ich hatte einen Schädelbruch, und mir ist das Gehirn ausgelaufen. Das ist wohl kaum eine geringfügige Verletzung!«
»Nun, bisher ging ein abgeschossenes Bein auch nicht als geringfügig durch!«
»Na, mach mal halblang! Das …«, er zeigte auf meine Hüfte, »… ist doch nur eine einfache Fleischwunde!«
Fleischwunde, dass ich nicht lache, kleiner Bruder!
Begreifen spiegelte sich in seinem Gesicht. Unsere mentalen Fähigkeiten waren während unserer Kindheit bestenfalls dürftig gewesen. Wie bei einem Wackelkontakt waren sie mal aufgeflackert, mal nicht. Meistens war sie auf unfair einseitige Weise zutage getreten – von Tyler zu mir. Als Tyler in der Pubertät die Wandlung durchlaufen hatte, waren sie ganz verschwunden.
Nun aber war diese Fähigkeit wieder da.
Du willst es mir heimzahlen, was, Brüderchen?
»Okay, das reicht jetzt!«, herrschte uns Vater an. »Tyler, reiß dich jetzt bloß am Riemen! Deine Schwester wird unsere Hilfe brauchen. Was geschehen ist, ist beispiellos. Gut, bislang haben wir erfolgreich so getan, als sei nichts. Aber nun müssen wir überlegen, wie wir vorgehen wollen, um die Folgen zu minimieren. Die Wölfe sind unruhig, und wir müssen vorsichtig agieren.«
Mein Bruder hörte sofort auf herumzualbern. Angelegenheiten des Rudels nahm er ernst. Das hatte er immer getan. Für einen Sechsundzwanzigjährigen hatte er einen ungewöhnlich hohen Rang innerhalb des Rudels. Der einzige Wolf, der außer Dad im Rang über ihm stand, war Dads Stellvertreter James Graham, der schon seit über einem Jahrhundert an Dads Seite war. Tyler hatte eine Menge blutiger Kämpfe ausfechten müssen, um so schnell so weit aufzusteigen. Er war ein starker Wolf, und ich hoffte, dass das in der Familie lag.
Mein Vater stand auf und ging zum Fußende des Bettes. »Die Wölfe ahnen etwas. Aber noch besteht die Chance, dass ihnen deine Wandlung entgangen ist. Die meisten wissen nicht genau, was sie gestern Nacht gehört haben, weil ich die Verbindung so schnell abgebrochen habe. Diesen Vorteil müssen wir nutzen, Jess, und versuchen, die Neuigkeit über deine Wandlung, solange wir nur können, zurückzuhalten – am besten für immer.«
»Was meinst du mit ›was sie gehört haben‹?«, fragte ich. Das hörte sich nicht gut an.
»Ein neuer Wolf signalisiert seine erste Veränderung dem Rudel. Das läuft automatisch ab, eine Sicherheitsmaßnahme, mehr nicht. Deine Wölfin hat genau diesen Alarm ausgelöst.« Mein Vater drehte sich um und schaute mich an. »Bei der ersten Wandlung zünden die Wölfe eine Art Signalfeuer. Vor Hunderten von Jahren haben wir so überall in Schottland und Wales Wölfe aufgefunden, was wichtig war für ihre Sicherheit. Denn diese Wölfe haben bis zur ihrer ersten Veränderung gar nicht gewusst, was sie sind.«
»Das ganze Rudel hat meine Wandlung gehört?« Der Gedanke, dass ein ganzes Rudel Werwölfe in meinem Kopf war, löste in mir Panik aus, die wie eine Welle über mir zusammenschlug. »Können die mich jetzt auch hören?« Ich gab mir Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Aber es machte sich doch bemerkbar.
»Nein, können sie nicht«, versicherte mir mein Vater. »Die Verbindung zum Rudel wird grundsätzlich von mir hergestellt, und nur von mir. Wölfe können nicht aus eigener Kraft interne Unterhaltungen führen. Tyler und du, ihr seid eine seltene Ausnahme. Das liegt zweifellos daran, dass zwischen euch so starke Blutsbande bestehen, und ganz sicher nicht an der Zugehörigkeit zum Rudel. Ich bin der Verbindungskanal, weil ich der Alpha bin. Der Alarm, den du ausgelöst hast, war nur für ein paar kurze Augenblicke wahrnehmbar. Als mir klar wurde, dass du es bist, habe ich die Verbindung komplett gekappt. Derzeit weiß im Rudel keiner, dass du dieser neue Wolf bist. Das ist unser Vorteil.« Dad strich sich erneut mit der Hand durch das
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