Vollmondkuss
»Oder dieser Vampir hat aus irgendeinem Grund einen Narren an dir gefressen.«
Eine nette Art, mir das zu zeigen, hatte Jolin gedacht, und genau dieser Gedanke ging ihr auch jetzt wieder durch den Kopf. Die gemeinsame Nacht in dem alten verfallenen Haus und die vergangene in der Burgruine passten einfach nicht zusammen. Selbst wenn in Roubens Körper tatsächlich zwei Seelen tobten - konnten diese wirklich so grundverschieden sein? Vielleicht hatte Jolin sich ja geirrt, als sie annahm, dass sie ihn in der Neumondnacht durch ihre Emotionen aus seiner Doppelexistenz erlöst hatte.
Die U-Bahn fuhr in die nächste Station ein. Jolin registrierte den Schriftzug an der hellgelb gefliesten Wand und sprang sofort von ihrem Sitz auf. Sie trat durch die Tür auf den Bahnsteig hinaus, orientierte sich kurz, welchen Ausgang sie nehmen sollte, und lief dann zielstrebig auf die Rolltreppe zu ihrer Linken zu. Hinter einer zierlichen Frau in einem grünen Tweedkostüm betrat sie die erste Stufe und glitt langsam nach oben.
Kurz bevor sie die Rolltreppe verlassen wollte, schälte sich ein Mann im schwarzen Mantel und mit einem Hut aus der morgendlichen Dunkelheit über ihr und betrat die angrenzende Rolltreppe, die nach unten führte. Er trug eine Sonnenbrille und hielt zudem den Kopf gesenkt, sodass seine Gesichtszüge kaum zu erahnen waren, doch Jolin wusste sofort, dass es sich nur um Rouben handeln konnte. Noch während er an ihr vorbeiglitt, drehte sie sich um und hastete ihm entgegen der Fahrtrichtung hinterher. Sie erreichten das untere Ende zur gleichen Zeit. Jolin griff in den schweren Wollstoff seines Mantels und versuchte ihn aufzuhalten.
»Verdammt nochmal, was hast du mit deinem Vater gemacht?«, hörte sie sich kreischen.
Aus Roubens geöffneten Lippen ertönte ein dumpfes Grollen, das eher an ein Tier erinnerte als an einen Menschen. Jolin registrierte noch, wie er sich den Hut vom Kopf nahm, im nächsten Moment wurde es schwarz um sie, und sie hatte das Gefühl zu ersticken. Sie ließ den Mantel los und fasste sich röchelnd an den Kopf. Im selben Augenblick, als sie den steifen rauen Filz ertastete, wusste sie, was passiert war. Sie riss sich den Hut aus dem Gesicht und blinzelte gegen das grelle Licht der U-Bahn-Station, doch das Einzige, was sie jetzt noch wahrnahm, war ein feiner kühler Windhauch, der um ihren Hals strich. Rouben selbst war wie vom Erdboden verschluckt.
Jolin stand ein paar Sekunden wie erstarrt da, während die böse Ahnung in ihrem Herzen sich schlagartig in Panik verwandelte. Sie drehte sich um und hastete die Rolltreppe zum Klinikgelände hinauf. So schnell sie konnte, raste sie auf den größten Gebäudekomplex zu und suchte nach dem Haupteingang, fand jedoch nur eine Nebentür, die glücklicherweise geöffnet war. Jolin stürzte einen langen schmalen Gang entlang und landete in einer Halle, von der aus zwei weitere Gänge, zwei Aufzüge und eine Doppeltür mit dem Hinweisschild Treppenhaus abgingen. Jolin stoppte und sah sich nach einem Pförtner um. Es gab keinen. Und es existierte auch kein Ausgang. Jolin drehte sich einmal um sich selbst, dann lief sie auf die Aufzüge zu und drückte beide Knöpfe. Sie hörte, wie die Seilwinde in Gang gesetzt wurde und die Aufzüge herunterglitten. Ungeduldig wartete sie, bis sich eine der Schiebetüren öffnete. Jolin sprang in den Aufzug und stellte fest, dass sie nicht allein war. Eine Schwester mittleren Alters mit kurzen, rot gefärbten Haaren und dunklen Schatten unter den Augen stand neben einem Rollbett, das vollständig mit einem weißen Laken abgedeckt war. Darunter zeichneten sich die Konturen eines menschlichen Körpers ab.
»Wie kommen Sie denn hier rein?«, herrschte die Schwester sie an.
»Äh ... ich ...« Jolins Blick haftete auf dem Rollbett. »Die Tür war auf!«, stieß sie hervor. »Die Seitentür.«
»Herrgott nochmal, zu wem wollen Sie denn?«
»Zu ... zu ...« Jolin schaffte es nicht, seinen Namen auszusprechen. Ihr Herz klopfte wild, und in ihrem Kopf gab es nur noch einen einzigen Gedanken: Der Mensch dort unter dem Laken musste Harro Greims sein!
»Doch nicht... ?« Die Schwester wurde blass. »Das kann nicht sein«, sagte sie dann. »Das wäre ja ein verrückter Zufall.« Unschlüssig sah sie Jolin an. »Zu Herrn Greims ?«
Jolin konnte kaum noch atmen. »Ist er das?«, fragte sie leise.
Die Schwester zögerte noch einen Moment, dann nickte sie. »Ja, das ist er«, erwiderte sie ebenso leise. »Es tut mir
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