Vollmondkuss
die Zusammenhänge erklärt. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb er sterben musste. Ja - während Jolin sich langsam in Bewegung setzte, nickte sie stumm vor sich hin. So musste es sein. Harro Greims kannte Roubens Geheimnis und heute - heute! - hätte er es ihr verraten, wenn sie nur früh genug bei ihm gewesen wäre!
Jolins Augen brannten. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie keine Schuld hatte, doch in ihrem Herzen machte sie sich schreckliche Vorwürfe. Sie beschleunigte ihren Schritt und rannte auf die U-Bahn-Station zu. Sie musste Ramalias Bild wiederfinden! Sie musste einfach!
Die helle Wintersonne schob sich langsam über die Wipfel der Bäume, als Jolin von Westen her den Stadtwald betrat. Sie lief bis zur ersten Gabelung, blieb stehen und versuchte sich zu orientieren. Früher hatte sie sich manchmal in der Nähe des großen Holzspielplatzes herumgedrückt. Der Wald war ihr nie ganz geheuer gewesen. Niemals hatte sie die Wege verlassen. Immer hatte sie darauf geachtet, dass möglichst viele Leute um sie herum waren. Nur dieses eine einzige Mal nicht.
Es war unmittelbar bei einer Eiche gewesen, daran erinnerte sie sich plötzlich. Vor ihrem geistigen Auge sah Jolin die typisch bogenförmig gerundeten Blätter, die sie damals so gemocht hatte.
Zielstrebig hielt sie sich nach Norden. Schon von weitem hörte sie das Lachen und Johlen von Kindern. Dann lichtete sich der Wald, und der große Holzspielplatz lag vor ihr. Und auf einmal wusste sie wieder, wo sie das Loch gegraben hatte. Jolin überquerte den Spielplatz, schlüpfte unter einer Hängebrücke durch und lief an einer Mauer aus Holzpfählen entlang bis zu einer Art Fort, das auf der Rückseite weder Eingänge noch Fenster oder Gucklöcher hatte.
Die Eiche wuchs genau gegenüber am Wegrand. Ihr Stamm hatte inzwischen an Umfang zugelegt, und sie war auch ein ganzes Stück in die Höhe gewachsen, aber Jolin hatte keinen Zweifel daran, dass es sich bei ihr um den richtigen Baum handelte. Sie umrundete ihn und suchte nach der Wurzel, die sich damals schon durch den moosigen Grund drückte und knapp zwei Meter vom Stamm entfernt unter einem Busch im Erdboden verschwand.
Jolin musste in die Knie gehen, um darunter schlüpfen zu können. Sie drehte sich zum Fort zurück und stellte fest, dass sie damals, als der Busch belaubt war, vom Spielplatz aus nicht zu sehen gewesen sein konnte. Und sie erinnerte sich auch noch, dass sie beim Eingraben sorgsam darauf geachtet hatte, nicht entdeckt zu werden. Ihr Herz begann zu klopfen, als sie ihre Finger über den Boden gleiten ließ. Sie riss Moos aus und bohrte ihre Finger in die Erde. Zum Glück hatte es in den letzten Tagen nicht mehr gefroren, sodass der Versuch, mit bloßen Händen ein Loch zu graben, nicht völlig aussichtslos war. Keuchend trug Jolin Zentimeter für Zentimeter Erde ab. Sie bearbeitete eine Fläche von ungefähr einem Viertel Quadratmeter. Als ihre Hände bis zum Armansatz in dem Loch verschwanden, war sie überzeugt, dass sie sich geirrt haben musste. Entnervt griff sie noch ein letztes Mal in die Erde - und spürte etwas Hartes. Das Bild! Es musste das Bild sein. Hastig grub Jolin weiter. Kurz darauf blitzte ihr das Gold des Rahmens entgegen, und wenige Minuten später hielt sie das Bild in den Händen. Sie hatte es mit dem Foto nach unten eingegraben. Langsam drehte sie es herum.
Jolin registrierte Ramalias Schönheit nur noch am Rande. Sie fixierte ihre Augen, sah diese ungewöhnliche anthrazitfarbene Iris, die mit einer filigranen schwarzen Verästelung durchzogen war, die wiederum eine Art Muster bildete, das aus Tausenden winzig kleinen Sonnen bestand.
»Lechtewinks Schwägerin - dass ich nicht lache!«, murmelte Jolin. »Du bist Roubens Mutter, und du existierst noch. Aber auf welcher Seite stehst du, Ramalia? Auf der deines Sohnes? Oder auf meiner? Wen liebst du mehr? Die Menschen oder die Vampire? Kannst du überhaupt lieben? Warum hast du mir diese ganzen verwirrenden Dinge über die Wesen des Lichts und jene der Dunkelheit erzählt?« Jolin war viel zu aufgewühlt, um plausible Antworten auf diese Fragen finden zu können. Aber vielleicht fand sie sie ja auf der Rückseite des Fotos.
Mit fliegenden Fingern löste Jolin die Metallklammern, die das Foto in seinem Rahmen hielten. Sie nahm den Rückendeckel aus gepresstem Karton heraus und blickte auf eine Art Gedicht, das in dunkelroten, schnörkelig altmodischen Buchstaben geschrieben war.
Einmal nur in
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