Vollmondkuss
wirklich sehr leid.«
Jolin senkte den Kopf. Sie konnte sich nur mühsam beherrschen, nicht gegen die Wände des Fahrstuhls zu schlagen. Warum bin ich nicht früher losgefahren?, dachte sie verzweifelt. Warum nicht gestern Nacht schon?
»Gestern Abend war er noch vollkommen wohlauf«, erzählte die Schwester. »Vor einer halben Stunde hat er den Alarmknopf gedrückt. Innerhalb weniger Sekunden waren wir in seinem Zimmer, aber da konnten wir schon nichts mehr für ihn tun. Jetzt bringe ich ihn hinunter in die Pathologie.«
Das brauchen Sie nicht, lag es Jolin auf der Zunge zu sagen, ich weiß, woran er gestorben ist. Doch dann besann sie sich darauf, in welcher Abteilung sie sich befand und dass man sie unweigerlich dabehalten würde, wenn sie diesen verrückten Gedanken aussprach.
»Kann ich mitkommen?«, bat sie stattdessen.
»Was? In die Pathologie?«
Jolin hob die Schultern. »Ich würde gerne einen Augenblick mit ihm allein sein«, sagte sie. Sie spürte eine Träne, die ihr über die Wange rann, und wischte sie hastig fort.
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Jolin«, sagte Jolin. »Jolin Johansson. Ich hab früher mal in seinem Stadtteil gewohnt. Er hat mir Geschichten erzählt und ...«
»Ich weiß«, sagte die Schwester. Plötzlich war ihre Stimme ganz sanft. »Es tut mir leid. Ich hätte eigentlich von selbst draufkommen können.« Sie schob die Hand in ihre Kitteltasche und holte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Er hat ständig von Ihnen geredet«, fuhr sie fort, während sie Jolin das Papier hinhielt. »Und heute Morgen hat er mir das für Sie gegeben. Sie muss es bekommen, hat er gesagt. Es gehe um Leben und Tod. Na ja, er hatte halt diese verrückten Ideen«, fügte sie entschuldigend hinzu.
Jolin nahm das Papier, und die Schwester lächelte hilflos.
Er war nicht verrückt, dachte Jolin. Sie machte einen Schritt nach hinten, lehnte sich an die Wand und faltete den Zettel auseinander. Es war ein ganz ähnliches Stück Papier wie das, welches sie gestern bereits von ihm bekommen hatte. Harro Greims Schrift war krakelig und die einzelnen Wörter teilweise unvollständig und kaum noch zu lesen.
Nim das Bild as dem Rame und schu auf die Rückseit
entzifferte Jolin mühsam die Botschaft ihres alten Freundes. Sie ließ die Hände sinken, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Die Schwester hatte den Fahrstuhl bereits in Bewegung gesetzt. Das Bild, dachte Jolin. Ramalias Bild. Die Stelle, an der sie es vor fünf Jahren vergraben hatte, würde sie doch niemals wiederfinden.
Jolin hielt es nicht lange in dem kahlen kalten Krankenhauskeller aus. Vielleicht eine Minute stand sie unter dicken Heizungsrohren neben dem Rollbett und kämpfte mit sich. Schließlich gab sie sich einen Ruck und schlug das Laken zurück.
Harro Greims’ Gesicht war faltig und blass. Man hatte ihm die Augen zugedrückt, und sein Kopf war leicht zur Seite gefallen. Jolin berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. »Ich werde es versuchen«, murmelte sie. »Vielleicht hätte ich das Bild nicht verstecken sollen. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass es einmal so wichtig werden würde. Es war mir damals schrecklich unheimlich. Jetzt weiß ich, warum.« Langsam zog sie das Laken bis zu seiner Brust herunter. Die Bisswunden waren auf der linken Halsseite. Man konnte sie nicht übersehen. Jolin hörte bereits die Stimme von Marc Bator: ... fiel erstmals ein Mensch dieser ungewöhnlichen Tötungsart zum Opfer. Noch immer rätseln die Experten ...
Hastig deckte sie Harro Greims wieder zu, lief in den offen stehenden Aufzug und fuhr ins Erdgeschoss zurück.
Jolin atmete tief durch, als sie durch die Seitentür ins Freie trat. Noch immer quälte sie der Gedanke, dass sie den Tod ihres alten Freundes hätte verhindern können, ja müssen. Andererseits hatte sie nicht ahnen können, dass Rouben, dass ausgerechnet sein eigener Sohn, ihn töten wollte. Warum hatte er das getan? Was hatte er davon, einen Menschen zu vernichten, der ihn liebte? Oder hatte Harro Greims womöglich nie etwas für seinen Sohn empfunden? Schließlich hatte er ihn ihr gegenüber nie erwähnt, sondern immer nur von Ramalia gesprochen. War es vielleicht möglich, dass er gar nichts von Roubens Existenz wusste? Aber wie hatte Harro Greims dann wissen können, dass sie in Gefahr war? Und wie hing das alles zum Teufel nochmal mit Ramalias Bild zusammen? Bestimmt hätte er ihr an diesem Morgen
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