Vollmondkuss
hatte er sie im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand gebracht, und nur um ... Ja, um was überhaupt damit zu bezwecken? Dass sie diese eine Nacht mit ihm verbrachte? Aber warum? Jetzt, nachdem sie die Prophezeiung gelesen hatte, wusste sie, dass Rouben durch das Liebesspiel mit ihr gar nicht zum Menschen geworden sein konnte.
Manche Dinge verhalten sich anders, als sie auf den ersten Blick scheinen. Ich habe alles getan, was ich tun konnte, und alles gesagt, was zu sagen war. Ich bin immer bei dir gewesen und war nie gegen dich. Was soll ich tun, wenn du die falschen Schlüsse ziehst?
Das waren Roubens Worte gewesen, als sie am Nachmittag vor der Geschichtsexkursion das letzte Mal miteinander geredet hatten. Jolin musste sie völlig falsch interpretiert haben.
Schlagartig hörte sie auf zu weinen. Sie drehte die Karte um und klappte sie auf. Auch von innen sah sie aus wie ein Sternenhimmel, in dessen Mitte ein weißer Vollmond prangte.
Einladung
zur Vollmondparty
am 21. Dezember um
21°° an der Schule
Ich hole euch ab
Rouben
stand in blutroten Druckbuchstaben darin. Ich habe Geburtstag und würde mich riesig freuen, wenn du kommst hatte er mit der Hand darunter geschrieben.
Jolins schlug ihren Kalender auf. Am 21. Dezember war tatsächlich wieder Vollmond. In diesem Jahr fiel er genau auf den Tag der Wintersonnenwende. Noch war Rouben siebzehn. Noch hatte er das achtzehnte Jahr nicht vollendet.
Wenn Vollmond und Wintersonnenwende einander nähern, möge es geschehen, dass ein Jüngling ans Tageslicht tritt...
Jolin schwirrte der Kopf. War das der Grund, weshalb Rouben Licht und Sonnenstrahlen vertrug? Weil er sozusagen auserwählt war, die Prophezeiung zu erfüllen? Musste er jetzt nur noch die zwölf jungfräulichen Mädchen küssen, um ein sterbliches Leben gewährt zu bekommen? Und wenn ja, würden diese Mädchen den Kuss überleben?
Plötzlich war Jolin wie elektrisiert. Sie dachte an Anna, an Carina, an Katrin, Rebekka, Melanie, Susanne und all die anderen, ja, sie dachte sogar an Klarisse …
»Was sagst du da?« Anna lachte Jolin geradewegs ins Gesicht. »Du willst, dass ich auf die Vollmondparty verzichte?«
»Ja«, sagte Jolin. »Du und alle anderen auch.«
»Pfff.« Anna verschränkte die Arme über der Brust und sah kopfschüttelnd durch das Fenster in die Dunkelheit des U-Bahn-Schachtes hinaus. »Klarisse hatte vollkommen recht: Irgendwann drehst du völlig durch, hat sie gesagt.«
Jolin schwieg. Sie wusste nicht, wie sie Anna klarmachen sollte, dass diese Party tödlich für sie enden konnte.
Klarisse hatte sie und alle anderen mittlerweile so kirre gemacht, dass keine von ihnen mehr Wahrheit und Fiktion wirklich auseinanderhalten konnte. Wahrscheinlich waren sie alle ausnahmslos davon überzeugt, den Megaevent des Jahrhunderts zu verpassen, wenn sie Roubens Einladung nicht nachkamen.
»Hast du schon vergessen, dass er dich dringend gebeten hatte, mir zu sagen, dass ich unbedingt kommen soll?«, fragte Jolin.
Ruckartig wandte Anna sich ihr wieder zu. »Nein, das hab ich nicht«, sagte sie. »Aber was, zum Teufel, Jol, hat das schon zu bedeuten?«
»Er spielt mit uns«, sagte Jolin. »Mit mir, mit dir, mit Klarisse. Er hat uns doch völlig in der Hand. Zumindest mit Klarisse könnte er machen, was er wollte.«
»Du bist ja nur eifersüchtig.«
»Und wenn er uns alle töten will?«
»Du bist ja verrückt!«, stieß Anna hervor. »Es ist gerade mal zwei Wochen her, als du mich von diesem beknackten Trip, dass er ein ...«, sie senkte die Stimme, damit keiner der Fahrgäste verstand, was sie sagte, »... Vampir sein könnte, heruntergeholt hast.«
»Ja, und ein paar Tage später warst du bereits wieder drauf«, erwiderte Jolin. »Und nur, weil Klarisse dich erneut mit ihren Hirngespinsten gefüttert hat.«
»Siehst du.« Anna grinste. »Du sagst ja selber, dass es nur Hirngespinste sind.«
Jolin beugte sich vor und packte Anna bei den Schultern. »Es sind aber keine, hörst du? Rouben ist wirklich ein Vampir. Wenn wir zu ihm nach Hause gehen, wartet seine ganze hungrige Familie auf uns. Für die ist diese Party ein einziges Festmahl.«
Anna befreite sich aus Jolins Griff. Dann fing sie an zu lachen. »Du spinnst doch! Woher willst du wissen, dass Rouben ...?«
»Ich weiß es eben«, zischte Jolin.
»Dann erklär es mir bitte«, forderte Anna sie auf.
Jolin sah ihre Freundin an und suchte nach den passenden Worten. Doch wo sollte sie anfangen? Bei Harro Greims,
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