Vollmondkuss
für die Schule eine Schnitte mehr als üblich, damit Paula nicht misstrauisch wurde.
Trotzdem verpasste sie die Bahn um kurz nach sieben. Anna war bereits weg und die Luft raus aus der Sache. Jolin würde auf eine neue Gelegenheit warten müssen, wann auch immer die sich bot. Sie mochte es nicht, wenn sie spontan reagieren sollte, das lag ihr nicht, meistens hatte sie sich nicht unter Kontrolle, und die Gefahr, es ein weiteres Mal zu vermasseln, war groß. Das Beste würde sein, wenn sie bis zum nächsten Morgen wartete. Sie konnte sich den Wecker früher stellen und zeitig genug losgehen. Auf einen Tag kam es schließlich nicht an. Jolin atmete durch. Sie hob den Kopf und blickte gedankenverloren vor sich hin.
Da bemerkte sie ihn. Rouben. Er stand zwischen der Rolltreppe und dem Glaskasten, in dem die Fahrpläne hingen. Er sah sie unverwandt an. Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller. Sie wollte weggucken, aber sie kam sich albern vor, und so nickte sie ihm zu, kurz und nicht allzu verbindlich. Als hätte sie einen Schalter umgelegt, setzte Rouben sich in Bewegung. Die ersten Schritte waren seltsam steif, wie eingefroren, doch allmählich wurden seine Bewegungen geschmeidiger. Lächelnd stellte er sich neben sie. »Hallo.« Seine Stimme klang rau und unausgeschlafen.
»Hallo«, sagte Jolin. »Guten Morgen.«
»Du bist spät dran«, sagte er.
Jolin lachte unsicher. »Du auch.«
»Ich weiß.«
»Ich dachte nicht, dass das deine Strecke ist«, sagte Jolin.
»Wieso nicht?«, fragte Rouben verwundert.
»Weil du gestern nach der Schule nicht ...«
»Du hast mich nicht gesehen«, fiel er ihr ins Wort. »Du hast mit Anna geredet.«
»Dann wohnst du also auch in Heimersdorf?«, fragte Jolin. »Seit wann? Und auf welche Schule bist du vorher gegangen?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein«, sagte Jolin überrascht. »Es interessiert mich bloß.«
»Warum?«
»Nur so.« Sie merkte, dass sie verlegen wurde. »Es ist doch immer interessant zu erfahren, wie andere Schulen so sind«, fügte sie hastig hinzu.
Wieder nickte Rouben. »Es war nichts Besonderes damit. Eine ganz normale Schule. Genau so wie eure.«
»Und welche Kurse hast du hier?«
»Englisch, Bio, Kunst, Mathematik und Erdkunde.«
Genau wie ich, dachte Jolin. Sie war froh, dass sie nicht gleich damit herausgeplatzt war. Ihre Finger strichen den Trageriemen ihrer Umhängetasche entlang. Sei nicht so nervös, ermahnte sie sich. Rouben war die Ruhe selbst, zumindest schien es so. Blass und still stand er neben ihr und blickte sie an.
»Die Bahn kommt«, sagte Jolin, als sie bemerkte, dass die Zeitangabe auf der Anzeigentafel von i Minute auf sofort umsprang.
Stumm warteten sie, bis der Zug einfuhr und alle Fahrgäste ausgestiegen waren. Rouben ließ ihr den Vortritt, Jolin sah sich um, entdeckte auf den ersten Blick keinen Platz und stellte sich in die Tür gegenüber. Bis zur Lessingallee würde auf dieser Seite niemand ein- oder aussteigen. Doch Rouben fasste sie am Arm und zog sie in den Mittelgang zurück. »Komm«, sagte er.
Jolin wollte ihren Arm wegziehen, aber sie war wie paralysiert. Seine Berührung war auf beängstigende Weise fremdartig und gleichzeitig geradezu elektrisierend. Sie hielt den Atem an und folgte ihm willenlos. Verdammt, du bist doch keine Marionette, dachte sie wütend, dann fiel ihr Klarisse ein, die mit solchen Dingen überhaupt keine Probleme hatte und sich von Rouben wahrscheinlich lachend durch den ganzen Wagen hätte ziehen lassen. Du bist aber nicht Klarisse, dachte Jolin.
»Kannst du mich bitte loslassen«, sagte sie leise.
»Klar.« Rouben wandte sich um. Er sah einen Augenblick lang irritiert aus, dann lockerte er seinen Griff. »Entschuldige bitte.« Er lächelte. Es war das gleiche Lächeln wie tags zuvor, ein Lächeln, das sich ausschließlich in seinem Gesicht abspielte, aufgesetzt wie eine Maske, ohne jedes Gefühl. Jolin fröstelte. »Schon gut«, sagte sie. Plötzlich hatte sie keine Lust mehr, bei ihm zu stehen, und ließ sich neben einer fülligen Frau auf den letzten freien Platz einer Vierersitzgruppe sinken. Sie hörte, wie Rouben Luft einsog. Ihr Herz klopfte, sie zwang sich, ihn nicht zu beachten, und blickte stur zum Fenster, bis sie in die nächste Station einfuhren. Angespannt beobachtete Jolin die Leute auf den Bahnsteigen, sah, wie sie sich drängten und zu den Zügen hasteten. Unwillkürlich fiel ihr der Typ mit dem schwarzen Hut ein, sie entdeckte ihn aber nicht. Erleichtert atmete sie
Weitere Kostenlose Bücher