Vollmondkuss
verspürt hatte. Rouben spielte mit Anna, mit Klarisse - und natürlich auch mit ihr.
Jolin lehnte den Kopf zurück und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Was hatte er vor? Warum wollte er, dass sie mit auf Klarisses Party kam? Worauf würde sie sich einlassen? Worauf durfte sie sich einlassen?
»Ist dir nicht gut?«, hörte sie Leonhart fragen.
Augenblicklich öffnete Jolin die Augen. »Doch, doch«, sagte sie. »Es geht schon. Mir war nur kurz schwindelig. Ich hab nicht viel gefrühstückt«, fügte sie rasch hinzu.
Leonhart musterte sie skeptisch, schließlich nickte er und ging weiter zu seinem Platz.
»Okay, ich frag sie«, sagte Anna draußen auf dem Flur.
Jolin war verwirrt. Sie versuchte sich auf die Logarithmen zu konzentrieren, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu Roubens Händen, die nur wenige Zentimeter neben ihr mit einem schwarzen Kugelschreiber spielten und hin und wieder ein paar Zahlen auf einem Kollegblock notierten. Wieder fiel ihr auf, wie schmal und kräftig sie waren, mit langen geraden Fingern und sorgfältig gefeilten Nägeln. Rouben wirkte sehr gepflegt. Immer sah er aus, als ob er gerade erst ein Bad genommen hätte. Was Jolin jedoch irritierte, war, dass nicht der Hauch eines Duftes von ihm ausging. Er roch weder nach Duschgel, noch nach Rasierwasser oder einem Eau de Toilette. Er roch nicht einmal nach Mensch.
Erschrocken über diesen Gedanken riss Jolin ihren Blick von Roubens Händen los und schaute zur Tafel, die mittlerweile mit Formeln und Berechnungen übersät war.
»Ich hoffe, du kannst mir helfen«, wisperte Rouben. »Ich blick das überhaupt nicht.« Jolin zuckte zusammen.
Sein Gesicht war so dicht neben ihrem, dass sie seinen Atem auf der Wange spürte. Sie öffnete ihre Nasenlöcher. - Nein, er hatte wirklich keinen Geruch.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Eigentlich bin ich in Mathe ganz gut. Aber im Moment...«
»Wir kriegen das schon hin«, erwiderte Rouben. »Wir schmeißen einfach unsere Notizen zusammen, leihen ein paar Bücher aus und ...«
Jolin schaute ihn an. Sie sah den Blick in seinen Augen, der auf einmal überraschend normal und freundlich war. Jolin spürte eine leise Vertrautheit in ihrem Herzen, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, an wen dieser Blick sie erinnerte, hatten Roubens Augen bereits wieder ihren gewohnt distanzierten Ausdruck angenommen. »Und was?«, fragte Jolin irritiert.
»Und lösen die Aufgaben gemeinsam.« Rouben lächelte. »Was sonst?«
Jolin schluckte. Hastig sah sie wieder weg. »Klar. - Und wo? Bei dir?«
»Nein, das geht nicht«, sagte Rouben. »Wir können uns doch in der Bibliothek zusammensetzen.«
Jolin nickte. Einerseits war sie erleichtert. In der Bibliothek waren immer auch noch andere, dort würden sie nicht allein sein. Andererseits spürte sie deutlich, dass er seine Herkunft, sein Zuhause, sein ganzes privates Umfeld vor ihr geheim halten wollte. Vor ihr und vor allen anderen. Aber was zur Hölle wollte er dann von ihr? Wirklich nur, dass sie ihm half? Aber warum ging er dann nicht einfach allein auf Klarisses Party?
Jolin kämpfte den Rest der Stunde mit sich. Verstohlen registrierte sie, wie er seine Sachen in die abgewetzte Ledermappe steckte. Schließlich fasste sie sich ein Herz. »Was wollte Anna denn von dir?«
Rouben sah sie überrascht an. »Hast du das nicht mitbekommen?«
Jolin schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich ertappt. Und es gefiel ihr nicht, dass sie log. Aber es ging nicht anders. Sie konnte doch nicht zugeben, dass sie gelauscht hatte.
»Sie hat mich eingeladen«, sagte Rouben. »Am Samstag zu einer Party.«
»Und?«, fragte Jolin. »Gehst du hin?«
Rouben zuckte die Schultern. »Glaub schon. Wieso nicht?«
Jolin holte tief Luft. »Ja, wieso nicht.«
Rouben klemmte sich die Ledermappe unter den Arm und lief an ihr vorbei auf die Tür zu. Kein weiterer Kommentar. Keine Frage, ob sie ihn vielleicht begleiten wollte. Warum hatte er bei Anna überhaupt so ein Thema daraus gemacht? Und wieso hatte er ihr nicht gesagt, dass die Party eigentlich bei Klarisse stattfand?
Jolin hängte sich die Tasche über die Schulter und folgte ihm in gebührendem Abstand. Er sollte bloß nicht denken, dass sie sich an ihn hängte. Das wollte sie ohnehin nicht. Zumindest ihr Verstand signalisierte ihr, dass es ganz sicher besser war, wenn sie nicht allzu viel mit ihm zu tun hatte.
Am späten Nachmittag nach der Basketball-AG rannte Jolin mit gesenktem Kopf zur
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