Vollmondkuss
Greims. Und schon waren die Zweifel und das nagende Gefühl wieder da. »Warum darf ich nicht mit zu dir nach Hause?«, fragte sie unvermittelt. »Wieso verheimlichst du mir deine Herkunft?«
Rouben lachte kurz auf. »Aber das tu ich doch gar nicht«, sagte er. »Es ist nur ...«
»Was?«, fragte Jolin. Sie nahm ihm das Päckchen aus der Hand, damit er es ihr nicht weiter so dumm entgegen-halten musste, und barg es in ihrem Schoß.
»Na ja, es ist gerade ein bisschen stressig zu Hause«, meinte Rouben schulterzuckend. »Mein Vater ...«
Jolins Herz schlug einen Takt schneller. »Was ist mit ihm?«
»Ach nichts.« Rouben machte eine abwehrende Geste. »Es sind Peanuts. Wirklich. Damit musst du dich nicht belasten.«
Sie glaubte ihm nicht. Sie sah es ihm an. Es waren keine Peanuts, es war etwas Ernstes. Aber vielleicht wusste er selbst nicht so genau, was ablief. Das war in vielen Familien so. Jolin wollte einfach glauben, dass es einigermaßen harmlos war, oder - na ja - wenigstens normal, nichts Besonderes. Zögernd zog sie an der transparenten Schleife.
»Jetzt mach schon«, sagte Rouben.
Jolin streifte das Stoffband ab, rollte es zusammen und steckte es in ihre Umhängetasche. Auf dem dunkelblauen Papier schimmerten unzählige winzige Pünktchen. Wie ein Sternenhimmel, dachte Jolin. Ihre Lippen verzogen sich zu einem nahezu unmerklichen Lächeln.
»Wie ein Sternenhimmel«, sagte Rouben. »Nicht?«
Jolin antwortete nicht. Sie konnte nicht einmal nicken, ihr Herz schlug viel zu schnell. Vorsichtig knibbelte sie die Klebestreifen mit ihrem Fingernagel ab und schlug das Papier zurück. Vor ihr lag eine flache quadratische Schachtel, die mit einem schwarzen samtartigen Stoff bezogen war. Ihre Hände zuckten zurück. Genau wie das Buch, dachte Jolin. Sie spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf.
»Mach sie auf«, befahl Rouben. Seine Stimme klang dunkel und weich, aber bestimmt.
Zögernd nahm Jolin die Schachtel in ihre Hände und hob den Deckel ab. Das blaue Funkeln stach ihr sofort in die Augen, und im ersten Moment wollte sie nicht glauben, was sie sah. Fassungslos blickte sie auf das silberne Armband mit den blauen Saphiren. Das Armband, das so viele Wochen beim Juwelier gleich neben dem Antiquariat Lechtewink im Schaufenster gelegen hatte!
»Was ist?«, fragte Rouben. »Gefällt es dir nicht?«
»Doch«, stotterte Jolin. »Aber ...« Entschieden schob sie den Deckel auf die Schachtel zurück und hielt sie Rouben entgegen. »Das geht nicht. Das ist viel zu teuer.«
»Es ist ja nur geliehen«, sagte Rouben.
Geliehen? Jolin spürte, wie sich eine kalte Hand um ihr Herz legte und es zusammendrückte. Hatte er nicht eben noch gesagt, es sei ein Geschenk? Oder hatte sie sich verhört:? »Ach so«, presste sie hervor.
»Die Steine haben mich an deine Augen erinnert«, sagte Rouben.
An meine Augen? Jolin wurde schwindelig. Was redete er denn da? Konnte er sich vielleicht mal entscheiden? Wollte er ihr eine Freude machen, oder wollte er sie nur für ihre Dienste bezahlen? Mit einer Leihgabe? »Natürlich würde ich es dir gerne schenken«, hörte sie ihn sagen. »Es passt so gut zu dir. Aber ich verstehe auch, wenn es dir unangenehm ist.«
Unangenehm? Jolin schwirrte der Kopf. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. Vollkommen unfähig, sich zu rühren, saß sie da und starrte immer noch auf das Armband. Wie sehr hatte sie es sich gewünscht! Und nun sollte sie es für diesen einen so gefürchteten Abend tragen dürfen. Als ob Rouben das gespürt hätte! Jolin fiel es zumindest schwer, an einen puren Zufall zu glauben. Sie dachte an das Buch, an Victor und die Baronesse. Auch er hatte ihr Dinge geschenkt - Geschenkt? - Na ja, wohl nicht so direkt. Genau genommen hatte er diese Dinge unter ihren Sachen versteckt. Schmuckstücke, Kleidungsstücke, Accessoires. Rouben machte seine Sache ganz offensichtlich, klar und ehrlich. Geschenkt oder geliehen, ganz so, wie sie es wollte. Außerdem war Rouben kein Vampir.
Jolin atmete einmal tief durch. »Okay«, sagte sie und bemühte sich, keinerlei Emotionen zu zeigen und möglichst sachlich zu antworten. »Es ist wirklich sehr schön.« Sie hob den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. »Und du hast absolut recht. Ich sollte mich von Klarisse nicht unterkriegen lassen. Ich werde es heute Abend tragen, und morgen bekommst du es zurück.«
»Gut.« Rouben nickte und lächelte. Für einen Augenblick glaubte Jolin einen schmalen sonnengelben Kranz um
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