Vollmondkuss
seine Pupillen gesehen zu haben. In diesem kurzen Moment wirkte er ganz warm. Und so normal. Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, war sein Blick wieder völlig verschlossen und kühl.
Hastig schob Jolin die Schachtel mit dem Armband in ihre Tasche und wandte den Kopf zum Fenster. Was sie sich nur immer einbildete!
»Hast du dich entschieden?«, fragte Anna am Ende der Chorstunde. »Kommst du heute Abend?«
»Ja, ich komme«, sagte Jolin und schob ihren Noten-Ordner zu denen ihrer Schulkameraden ins Regal. Sie hatte keine Lust, mit Anna zu reden, ihre Fragen zu beantworten oder einfach nur ihre bohrenden Blicke auszuhalten. Doch sie wurde sie nicht los.
»Was ziehst du denn an?«, wollte Anna wissen.
»Spielt das eine Rolle?«, erwiderte Jolin ein wenig bissig.
»Nein. Eigentlich nicht.« Anna hob die Schultern. »Es ist ja nur eine einfache Party.«
»Klarisse wird sich trotzdem ziemlich herausputzen, nehme ich an.«
Wieder zuckte Anna nur die Schultern. »Es ist ihre Party.«
»Und du?«, fragte Jolin nun doch.
»Ich?«
»Ja, du und Rebekka und Melanie und ...«
»Ein paar haben sich Cocktailkleider gekauft«, unterbrach Anna sie. »Aber du kannst natürlich auch ganz normal angezogen hingehen.«
Jolin nickte. Sie schulterte ihre Tasche und trat auf den Gang hinaus. Ganz normal würde sie sich natürlich nicht anziehen. Nicht, wenn sie das Armband mit den blauen Steinen trug.
Am Ende des Ganges lehnte Rouben an der Wand und wartete auf sie. Klarisse, Susanne, Melanie und Rebekka standen nur wenige Meter hinter ihm in der Pausenhalle und tuschelten. Es war klar, dass sie über ihn redeten. Und über die Party wahrscheinlich, vor allem aber darüber, wer ihn wohl kriegen würde.
Jolin fand dieses Gehabe albern, im Grunde fand sie die ganze Party albern, und eigentlich gab es weder für sie noch für Rouben einen wirklich ernsthaften Grund, dort hinzugehen. Sich nicht ausschließen zu wollen war doch bloß ein Scheinargument. Die Party fand nur für ihn statt, das war allen klar. Das wusste auch Rouben, und er schien es nicht einmal wirklich auszukosten.
»Warum?«, fragte Jolin, als sie bei ihm angekommen waren. »Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause? Die würden ganz schön dumm gucken.«
»Schon möglich«, sagte Rouben.
Jolin sah ihn an. »Also ...?«
»Also was?«
»Lass uns einfach zu Hause bleiben!«
»Und das Armband?«, entgegnete Rouben. »Willst du das vor dem Fernseher tragen?«
»Nein. Wir könnten doch ...« Jolin biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie vorschlagen? Etwa zusammen ins Kino zu gehen? Zum Abendessen? Oder in eine Kneipe?
»Wenn du mit mir ausgehen willst, dann lass uns auf die Party gehen«, sagte Rouben.
Jolin schnappte nach Luft. Warum verdrehte er nur alles? Nicht sie wollte mit ihm ausgehen, er hatte Anna gesagt, dass er nur zu Klarisse käme, wenn sie - Jolin! -ihn begleitete. Er war das Objekt der Begierde und sie der Spielball, benutzt von ihm und höhnisch geduldet von allen anderen.
Was willst du von mir? Diese Frage brannte so quälend in ihrem Herzen wie nie zuvor. Jolin spürte eine heftige innere Auflehnung, die sich von ihrem Brustraum bis in ihre Handmuskeln ausbreitete. Doch in dem Moment, als der Protest aus ihr herausbrechen wollte, berührte Rouben sie am Unterarm. Seine Fingerkuppen glitten über ihren Jackenärmel, ertasteten ihren Daumenballen und schoben sich wie selbstverständlich in ihre Hand.
»Hör auf zu grübeln«, sagte er leise. »Lass die Dinge doch einfach auf dich zukommen. Vielleicht sind sie viel weniger schrecklich, als du glaubst.«
»Ich grübel nicht«, erwiderte Jolin. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, aber er hielt sie fest. Es war nicht so, dass er Kraft aufwandte, zumindest keine körperliche. Rouben hielt sie einfach in ihrem Bann. »Woher willst du wissen, dass ich grübel?«
»Ich seh es dir an«, sagte er nur. »Und jetzt, Jolin, bitte, ein für alle Mal, entscheide dich: Begleitest du mich zur Party oder nicht?«
Du würdest mittlerweile also auch ohne mich gehen, dachte sie.
»Nein«, wisperte Rouben. Vielleicht bildete sie sich das aber auch bloß ein. Solange er ihre Hand hielt, konnte sie nicht klar denken. Plötzlich erschallte aus der Pausenhalle ein helles Lachen. Es kam von Carina. Sie stand bei Klarisse und den anderen und schaute ganz offenkundig zu Rouben und Jolin herüber.
»Sie denken, wir ...«, zischte Jolin und zog mit einem Ruck ihre Hand zurück.
»Lass sie doch denken«,
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