Vollmondkuss
einfach stehen lassen. Mittlerweile hatte er oft genug gesagt, dass er sie nicht treffen wollte, und Jolin wusste, dass sie daran nichts ändern konnte.
Erst nachdem sie den Zug an der Lessingallee verlassen hatte, fiel ihr auf, dass Rouben nicht mitgekommen war. Er erschien weder zum Englischkurs noch zu Mathe oder Kunst. Sie sah ihn bis zum späten Nachmittag nicht.
»Ist er krank?«, fragte Anna, die Jolin auf dem Weg zur Sporthalle abfing. »Klarisse möchte wissen, ob er sich eventuell verkühlt hat.« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Das Telefonat vom Abend zuvor hatte sie offenbar erfolgreich verdrängt. Anna hatte sich wieder von Klarisses Gift anstecken lassen.
»Jetzt lass mich doch endlich in Ruhe damit«, sagte Jolin genervt.
»Vielleicht haben sie ihn sich aber auch schon geschnappt«, fuhr Anna unbeirrt fort. »Es heißt, Carina habe lichte Momente gehabt und ihn ziemlich genau beschrieben.«
»Und wenn schon!« Jolin legte einen Schritt zu, doch Anna blieb ihr unbeirrt auf den Fersen.
»Ich dachte, es interessiert dich.« .
Jolin stoppte. »Mich oder Klarisse?«
Anna neigte den Kopf zur Seite und zuckte mit den Schultern. »Klarisse sagt, du schuldest ihr noch was.«
»Warum kommt sie dann nicht selbst?«, erwiderte Jolin. »Merkst du denn nicht, wie sehr du dich für sie zum Affen machst?«
»Das ist ja wohl ganz allein meine Sache«, sagte Anna schnippisch.
»Na wunderbar!«, entgegnete Jolin wütend. »Dann verstehen wir uns ja endlich mal! Das, was ich mit anderen so laufen habe, ist nämlich auch ganz allein meine Sache.«
Anna zog die Augenbrauen hoch. »Du hast also keine
Angst, dass die Polizei Rouben gefunden und festgenommen haben könnte?«
»Wieso sollte ich?«, fragte Jolin. »Im Gegenteil: Ich wäre froh, wenn sie ihn in ein tiefes, dunkles Loch steckten, aus dem er nie wieder herauskommt.«
Anna kniff die Augen zusammen und näherte sich Jolins Gesicht. »Vampire kann man nicht wegsperren. Sie lieben die Dunkelheit. Vampire kann man nur töten.« Sie machte eine Faust und setzte sie unsanft auf Jolins Brust. »Indem man ihnen einen Pflock durchs Herz bohrt.«
Nach der Basketball-AG fuhr Jolin alleine mit der U-Bahn nach Hause. Das Gespräch mit Anna hatte sie aufgewühlt, aber nicht wirklich zu neuen Erkenntnissen gebracht. Sie kramte ihre Brieftasche hervor und suchte nach dem Kalender, einer hellblauen Plastikkarte, die sie ein Jahr zuvor als Werbegeschenk von einer Bank bekommen hatte. Sie stellte fest, dass der 7. Dezember genau vierzehn Tage vor der Wintersonnenwende lag, und begann darüber nachzudenken, ob dieser Umstand von einer tieferen Bedeutung sein konnte. Warum hatte Klarisse sich ausgerechnet diesen Tag ausgeguckt? So verrückt, wie sie nach Rouben war, hätte ihr an einem möglichst baldigen Treffen mit ihm gelegen sein müssen, also heute oder morgen.
Wieder einmal dachte Jolin an das Buch mit dem schwarzen Samteinband und erinnerte sich, dass Victor und seine menschliche Geliebte sich niemals in einer Vollmondnacht getroffen hatten, weil das viel zu gefährlich für die Baronesse gewesen wäre. Am günstigsten war es immer zu Neumond gewesen. Denn in einer solchen Nacht hätte Victor ihr niemals etwas angetan.
Dummerweise waren die Mondphasen in diesen Kalender aber nicht eingetragen, und so steckte Jolin ihn zurück und ließ die Brieftasche in ihre Tasche fallen. Seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie dachte an Paula und daran, was die ihr vor einiger Zeit über den Mond und seinen Einfluss auf die Erde gesagt hatte. Jolin glaubte noch immer nicht wirklich daran, zumindest nicht, was gute oder schlechte Tage für bestimmte Hausarbeiten betraf, andererseits konnte sie nicht leugnen, dass der Vollmond auch auf sie schon immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt hatte und sie als Kind in stockfinsteren Neumondnächten stets besonders ängstlich gewesen war. Der Einzige, der diese Furcht ein wenig hatte mildern können, war Harro Greims gewesen. Seine Geschichten über Lebewesen, die in der Dunkelheit Schutz suchten und sich gerade dort besonders gut zurechtfanden, hatten Jolins Gehör, ihren Geruchssinn und sicher auch ihre Intuition geschärft.
Ein warmes Gefühl durchflutete sie, als sie an ihren alten Freund dachte, es wurde jedoch sofort von ihrem schlechten Gewissen überschattet. Abrupt öffnete Jolin die Augen, so als ob sich durch den Anblick der vielen fremden Menschen in der U-Bahn der
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