Vollmondkuss
ihren Stuhl und setzte sich ebenfalls. »Es klingt vielleicht banal«, fuhr sie fort, »aber genau diese Fernsehkochgeschichte, wie du das nennst, hat mich innerlich aufgerüttelt. Erst dadurch habe ich gemerkt, dass es noch ein zweites Leben hinter meinem Leben gibt.«
»Ist das nicht immer so?«, erwiderte Jolin. »Ich meine, wenn man den ganzen Tag zu Hause ist und ...«
»Nein, nein, nein, nein!«, unterbrach Paula sie empört. »Du darfst mich nicht mit einer normalen Hausfrau vergleichen, die wegen ihrer Kinder aus dem Beruf gegangen ist und der nach drei, vier Jahren daheim die Decke auf den Kopf fällt. Du bist inzwischen fast erwachsen, und ich habe über sechzehn sogenannte berufslose Jahre hinter mir, in denen ich absolut glücklich und zufrieden war.«
»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du bloß gedacht hast, du seist zufrieden«, wandte Jolin ein. Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust, mit ihrer Mutter zu streiten oder sich mit ihr in irgendwelche absurden Begriffsklaubereien zu verstricken. Dieses Thema interessierte sie nicht. Es kam ihr irgendwie klein vor. Gleichzeitig hasste sie sich dafür, dass sie so darüber dachte. Aber sie hatte im Augenblick weiß Gott ganz andere Probleme, mit denen sie noch dazu völlig alleine zurechtkommen musste.
»Natürlich«, sagte Paula, die mittlerweile wieder von ihrem Stuhl aufgestanden war, um nachzusehen, ob das Wasser in dem Topf bereits kochte. »Aus dem jetzigen Blickwinkel betrachtet, ist das auch so. Bevor ich die Einladung für diese Kochshow bekommen hatte, war ich aber noch davon überzeugt, dass ich zufrieden sei. Inzwischen denke ich, dass ich mich einfach nur an diesen Zustand gewöhnt hatte. Und zwar so sehr, dass mir alles Darüber hinaus denken schlichtweg Angst gemacht hat.« Sie piekste drei Eier an, nahm einen Löffel aus der Schrank-Schublade und versenkte die Eier vorsichtig im sprudelnden Wasser. »Mensch, überleg doch mal, Jol, was hab ich letztens vor dem Fernsehtermin für einen Affentanz veranstaltet.« Paula schlug sich lachend mit den Fingerkuppen gegen die Stirn. »Völlig hirnverbrannt das Ganze. Es war ja fast so, als ob ich dich dazu bringen wollte, mich in der letzten Sekunde noch davon abzuhalten, dorthin zu fahren.«
»Wie gut, dass es dir nicht gelungen ist«, sagte Jolin trocken. »Sonst wäre ich jetzt womöglich noch schuld daran, dass du doch nicht glücklich und zufrieden bist.«
Paula sah ihre Tochter überrascht an. Dann wurde ihr Blick abwesend. »Niemand ist schuld am Schicksal eines anderen«, murmelte sie. »Wahrscheinlich sind wir selbst es, die diese Abhängigkeiten schaffen. Mit denen, die selber so sind und darauf anspringen, klappt es auch. An denen jedoch, die innerlich frei und unabhängig sind, beißen wir uns die Zähne aus.«
»Aber du warst doch immer frei und unabhängig«, sagte Jolin.
»Ich habe es gedacht«, erwiderte Paula. »Ja, das hab ich wirklich.Tatsächlich aber scheinst du diejenige zu sein, die wirklich unabhängig ist. So wenig wie du dich emotional vereinnahmen lässt.« Mit einem Mal war der Ausdruck in ihren Augen wieder wach und klar. Sie wandte sich Jolin zu und sah ihr direkt in die Augen. »Oder ist das auch nur die Angst... Vor dem Leben hinter deinem Leben?«
Jolin hatte sich ihrer Mutter gegenüber nicht anmerken lassen, wie tief ihre Worte sie getroffen hatten. Sie hatte sogar den Kopf geschüttelt und gelächelt und war nahe daran gewesen, zu behaupten, dass sie ihr Leben lebte, wie es war, und es ein Dahinter ganz sicher nicht gab. Doch sie hatte es sich verkniffen, aus lauter Furcht, dass ihre Stimme gezittert und sie womöglich nicht wirklich überzeugend geklungen hätte. Paula hatte die Eier abgegossen und Jolin somit ein wenig Zeit gewonnen, sich zu fangen. Während des Frühstücks hatte sie dann das Gespräch auf die Schule und die anstehenden Klausuren gelenkt.
Inzwischen war es kurz nach sieben und Jolin auf dem Weg zur U-Bahn-Station. Der Tag versprach klar und sonnig zu werden, was ihre Stimmung allerdings nicht aufhellte. Sie musste sich zwingen, nicht über Paulas Ausführungen nachzudenken und darüber, welche Parallelen es möglicherweise zu ihrem eigenen Leben gab. Mit aller Macht versuchte sie sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Jolin stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie Rouben gegenüberstand. Sie legte sich jedes einzelne Wort zurecht und war fest entschlossen, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Trotzdem konnte sie es
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