Vom Aussteigen und Ankommen
ergriffen, etwas Verrücktes zu tun.
Die aufgehende Sonne färbte den Stall und den Bauwagen in ein warmes Orange. Der Schornstein des Bauwagens rauchte. Der Esel stand weiter oben am Hang und schrie schon mor gens um sechs. Im Bauwagen saß der Schäfer mit einer Tasse Kaffee und seiner Kräuterpfeife im Mund und begann zu schimpfen. Sein Groll richtete sich nicht im Allgemeinen gegen die Städter, sondern gegen eine ihrer speziellen Ausprägungen: die Bürokraten in den Landwirtschaftsministerien. Alle Tiere, sagte der Schäfer, müssten schon Ohrmarken tragen, demnächst wohl auch noch elektronisch lesbare, und bald würden die Bürokraten allen Tieren und Menschen Sonden einpflanzen, mit denen sie noch aus dem Weltall verfolgbar seien. Wir aßen halbweiche Eier. Ich fragte nicht, was die Legehennen gefressen hatten.
Wolfgang Hamacher ging mit wenigen weitverbreiteten Ansichten konform. Er erzählte mit aufgeregter Stimme, dass das Barfußgehen sehr gut für die Menschen sei, auch im Winter, da sich eine »natürliche Fußsohle« von selbst bilde. Aber die Leute akzeptierten das nicht (und Wolfgang Hamacher trug Schuhe). Er beklagte dann, dass Historiker behaupteten, der Mensch sei im Neolithikum, vor zehntausend Jahren, sesshaft geworden. Nein, bereits vor fünfunddreißigtausend Jahren sei dies geschehen, sagte Hamacher und führte weiter aus, dass die Menschen nur deswegen so viele Hunde hielten, damit sie ihre eigene Entfremdung (»sogenannte Kultiviertheit« waren Hamachers Worte) damit kompensieren könnten. Die Hundebesitzer liebten es, zuzusehen, wie wenigstens der Hund frei scheißen, ficken und fressen dürfe. Weiter fand Hamacher, dass die Mittel der staatlichen Seuchenbekämpfung kontraproduktiv seien und dass die Kinder heute nur noch vor Bildschirmen säßen und nichts mehr mit der Natur anfangen könnten. Warum war Wolfgang Hamacher nur so kauzig geworden?
Er besaß immerhin ein Handy. Aber er verabscheute Handys: »Handy, schon der Name, klingt wie ›Handikap‹, eine Behinderung.« Ebenso wie die Batterien für seine Elektrozäune lud er das Handy unten im Ort in seiner Meldewohnung auf. Die kleine Wohnung benötigte er vor allem dafür, um Briefe von den Behörden zu empfangen – etwa wenn er Fördergeld beantragt hatte. Sonst schrieb ihm auch kaum jemand.
Das Handy piepte dreimal. Jetzt, um 8.12 Uhr, hatte er eine Kurznachricht erhalten. Er las sie und ärgerte sich:
Lieber Kunde, Ihre Gratis-SprachFlat-Woche ist nun gebucht. Sie können sie bis zum 19. 4. 2010 nutzen.
Viele Grüße, Ihre Kundenbetreuung.
Absender 70254.
Wolfgang – seit heute Morgen duzten wir uns – fragte: »Wat is dat, ein Flat? Die machen mit mir doch, was sie wollen.« Dann sagte er: »Chatrooms … ›Schattenräume‹ würde ich das übersetzen.« Er hatte freiwillig einen Rückschritt hinter die erste industrielle Revolution gemacht. Wieso sollte er die zweite, den Wandel von der analogen in die digitale Welt, mit besonderem Interesse verfolgen?
Babys schrien, wenn sie etwas nicht wollten. Erwachsene schrien nicht mehr. Aussteiger schrien noch, aber niemand hörte ihnen mehr zu.
Jeden Mittag bekam er Die Welt von einem Freund aus dem Dorf geschenkt. Wenn er die Zeitung las, hatte er das Gefühl, dass achtzig Prozent der Themen für ihn nicht mehr relevant waren. Ob der Leitzins gesenkt wurde, welche neuen Autos es gab, ob irgendwo Arbeitsplätze abgebaut wurden oder wie Eintracht Frankfurt gespielt hatte. So vermittelte ihm auch die Zeitung, die ihn mit der Welt verbinden sollte, wie fremd ihm diese geworden war. Alte Bücher waren daher Wolfgangs intimste Verbündete geworden. Er las wohl mehr als professionelle Literaturkritiker. Fünf Kisten in einem Winter: mehr Bücher, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben schafften. Er wusste viel, aber teilte sich nur wenigen Menschen mit. Deswegen redete er seit gestern Mittag fast ohne Pause. Er hatte einen Hauptschulabschluss, aber als Autodidakt wohl eine größere historische, literarische und philosophische Allgemeinbildung als viele Gymnasiallehrer.
Seit acht Jahren lebte der Schäfer Wolfgang nun in diesem Wald. Wolfgang nannte die Leute aus dem Ort, weil sie, anders als er selbst, mit dem Computer und dem Internet umgehen konnten, »Schriftgelehrte«. Es sei für ihn wieder wie vor zweitausend Jahren, man müsse zu den Schriftgelehrten gehen, sagte er. Dass er immer mehr zum Auslaufmodell wurde, schien ihn zu beschäftigen, und es wirkte so, als
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